1. Buch. Auswärtige Politik. 19
deutschen Allianz betreten dürfen. Wir konnten uns an England nur unter der Voraus-
setzung binden, daß die Brücke, die über die wirklichen und vermeintlichen Gegensätze
zwischen uns und England führen sollte, auch wirklich tragfähig war.
Die Weltlage war damals, als die Allianzfrage ventiliert wurde, in vieler Hinsicht
eine andere als heute. Rußland war noch nicht durch den japanischen Krieg geschwächt,
sondern gewillt, seine eben gewonnene Stellung an der asiatischen Ostküste und speziell
im Golf von Petschili zu befestigen und auszubauen. Die Beziehungen zwischen England
und Rußland waren gerade wegen der zwischen beiden Reichen schwebenden asiatischen
Fragen damalsrecht gespannte. Die Gefahr lag nahe, daß einem mit England verbündeten
Deutschland die Rolle gegen Rußland zufallen würde, die später Japan allein übernahm.
Nuur hätten wir diese Rolle unter Bedingungen durchführen müssen, die nicht zu verglei-
chen sind mit den günstigen Voraussetzungen, die Japan für seinen Zusammenstoß mit
Rußland vorfand. Der japanische Krieg war in Rußland unpopulär, und Rußland mußte
ihn auf ungeheure Entfernungen gleichsam als Kolonialkrieg führen. Ließen wir uns.
gegen Rußland vorschieben, so kamen wir in eine viel schwierigere Lage. Der Krieg
gegen Deutschland wäre unter solchen Umständen in Rußland nicht unpopulär gewesen,
er wäre von russischer Seite mit dem nationalen Elan geführt worden, wie er dem Russen
eigen ist in der Verteidigung seines heimatlichen Bodens. Für Frankreich hätte der Casus
foederis vorgelegen. Frankreich hätte seinen NRevanchekrieg unter nicht ungünstigen Be-
dingungen führen können. England stand damals vor dem Burenkrieg. Seine Lage würde
erleichtert worden sein, wenn seine große kolonialpolitische Unternehmung unterstützt und
begleitet worden wäre von einer europäischen Verwicklung, wie sie England in der Mitte
des 18. und im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gute Dienste geleistet hatten.
Wir Deutschen hätten bei einem allgemeinen Konflikt einen schweren Landkrieg nach zwei
Fronten zu tragen gehabt, während England die leichtere Aufgabe zugefallen wäre, sein
Kolonialreich ohne große Mühe weiter zu vergrößern und vondergegenseitigen Schwächung
der Festlandmächte zu profitieren. Endlich und nicht zuletzt hätten wir während eines
kriegerischen Engagements auf dem Festlande und geraume Zeit nachher keinesfalls
Kraft, Mittel und Muße gefunden, den Aufbau unserer Kriegsflotte so zu fördern, wie
wir es haben tun können. So blieb uns nur die Möglichkeit, an den englischen Interessen
gleichsam vorüberzugehen, den feindlichen Zusammenstoß und die gefügige Abhängigkeit
in gleicher Weise zu meiden.
England und die deutsche Flotte. So ist es denn auch in der Tat gelungen,
uns unbehelligt und unbeeinflußt von Eng-
land diejenige Macht zur See zu schaffen, die unseren wirtschaftlichen Interessen und
unserem weltpolitischen Willen die reale Grundlage gibt, und die anzugreifen auch dem
stärksten Gegner als ein ernstes Wagnis erscheinen muß. Während der ersten zehn Zahre
nach der Einbringung der Marinevorlage von 1897 und dem Beginn unserer Schiffsbauten
wäre eine zum äußersten entschlossene englische Politik wohl in der Lage gewesen, die
Entwicklung Deutschlands zur Seemacht kurzer Hand gewaltsam zu unterbinden, uns
unschädlich zu machen, bevor uns die Krallen zur See gewachsen waren. In England
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