Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
80 Die Reichsversicherung. II. Buch. 
  
wahl der Arzte stattfindet, jene daher nicht in der Lage sind, den „Arzt ihres Vertrauens“ 
zu Rate zu ziehen. Die Reichsversicherungsordnung trägt diesem Gedanken mit der Be- 
stimmung Nechnung, es soll die Kasse, soweit es sie nicht erheblich mehr belastet, ihren 
Mitgliedern die Auswahl zwischen mindestens zwei Arzten frei lassen. Tatsächlich ist 
aber auch beim Kassenarztspstem ein weiter Spielraum gegeben; in lleineren und mitt- 
leren Ortschaften ist die Auswahl unter den Arzten ohnedies objektio beschränkt durch die 
Zahl der vorhandenen Arzte; in größeren und großen Städten aber geht die Zahl der 
Kassenärzte meist schon in die Hunderte. 
b) Unfallversicherung. Auf dem Gebiete der Unfallversicherung sind die Lei- 
stungen bestimmt, den Schaden zu ersetzen, der durch 
Tötung oder Körperverletzung entsteht. Sie bestehen daher teils in Krankenbehand-- 
lung, teils in einer Rente für die Dauer der Erwerbsunfähigkeit. In der Kranken- 
behandlung sind einbegriffen ärztliche Tätigkeit und Versorgung mit Arznei und 
anderen Heilmitteln, aber auch Hilfsmitteln, die erforderlich sind, um den Erfolg des 
Heilverfahrens zu sichern und die Folgen der Berletzung zu erleichtern. Daß je nach 
dem Maße der Erwerbsunfähigkeit die Rente abgestuft werden muß, erscheint unver- 
meidlich; doch ergeben sich große Schwierigkeiten zwar nicht bei einer Vollrente, die bei 
völliger Erwerbsunfähigkeit in Höhe von zwei Drittel des Zahresarbeitsverdienstes ge- 
währt wird, sondern bei Teilrenten, die dem Maße der Einbuße an Erwerbsfähigkeit 
entsprechen sollen. Die Verwaltung und Rechtsprechung gelangt hierbei des öfteren 
zu einer mehr schematischen Abgrenzung, da es in der Tat nicht ganz leicht ist, etwa 
bei Verlust eines Körperteiles mit aller Sicherheit das Maß der Erwerbsunfähigkeit 
in Prozenten festzustellen. Aber auch die Gefahr von Gewährung allzu kleiner Nenten 
ist nicht vermieden worden, obwohl diese zu einer wirksamen Unterstützung des Lebens- 
unterhaltes nicht beitragen, andererseits den Anreiz zu Simulationsversuchen in sich 
schließen. Der Rentenbezieher fürchtet den Verlust seiner Bezüge und will nicht gesund 
werden. Oie Reichsversicherungsordnung hat hier dadurch helfen wollen, daß sie die 
Kapitalabfindung des Verletzten bei Renten von 20% und weniger gestattet. 
Besondere Umstände finden die Möglichkeit einer Erhöhung der Rente vor. Ist der 
Verletzte derartig hilflos, daß er ohne fremde Wartung und Pflege nicht bestehen kann, 
so kann ihm mehr als die Vollrente zugesprochen werden, jedoch höchstens in dem Betrage 
bis zum vollen Jahresarbeitsverdienst; bei unverschuldeter Arbeitslosigkeit kann die Teil- 
rente auf Zeit bis zur Vollrente erhöht werden. Bei Tötung des Versicherten empfangen 
die Hinterbliebenen eine, freilich nicht übermäßig hohe Rente und auch Sterbegeld im 
Betrage des 15. Teiles des Jahresarbeitsverdienstes, jedoch mindestens 50 M. Aus- 
länder können unter Umständen mit einem Kapital abgefunden werden. 
Es ist eine Aufgabe von hohem Wert, auch bei den großen Massen der Bevölkerung 
die die Kreise der Verwaltung längst beherrschende Überzeugung zu verbreiten und zu 
festigen, daß das Hauptziel der Unfallversicherung nicht sein kann die Züchtung eines 
Staatspensionärwesens, sondern die Vorbeugung und die Heilung von körperlichen 
Verletzungen, natürlich neben einer Entschädigung der Hinterbliebenen im Falle der 
  
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