Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
II. Buch. Die Reichsversicherung. 87 
seiner eigenen Tatkraft bleibt also immer ein recht weiter Spielraum. Soweit in 
sämtlichen Zweigen der Versicherung eine vorbeugende und heilende Tätigkeit in 
Frage steht, wird man ernstlich nicht von einer Lähmung des selbständigen Willens 
zum Erwerbe sprechen können, ganz abgesehen davon, daß die Wiederherstellung 
verloren gegangener Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit und die Vorbeugung der Zn- 
validität Maßnahmen sind, die in der Allgemeinheit dem Arbeitgebertum und der Volks- 
wirtschaft mindestens in eben demselben Maße zugute kommen wie dem einzelnen Ar- 
beiter und seiner Familie selbst. Aber auch ein weiteres Moment läßt jene Befürchtung 
unbegründet erscheinen. Im weitesten Umfange haben die Versicherungsgesetze die Mög- 
lichkeit der freiwilligen Versicherung gegeben, die meist die Arbeitnehmer allein belasten. 
Besonders auf dem Gebiete der Krankenversicherung wird aber von der Versicherungs- 
berechtigung ein sehr erheblicher Gebrauch gemacht, woraus sich kar ergibt, daß die Ver- 
sicherten über ihre Pflicht hinaus Opfer bringen, weil sie das ihnen sonst gesetzlich Ge- 
währte nicht als genügende Fürsorge betrachten. Gerade in der Krankenversicherung, 
bei deren Verwaltung der überwiegende Einfluß der Arbeitnehmer wirksam zu werden 
pflegt, haben die Kassen von der fakultativen Erweiterung ihrer Leistungen einen viel- 
fach Bewunderung erregenden Gebrauch gemacht, ein unwiderleglicher Beweis dafür, 
daß sie sich selbst zu Leistungen anspornen und das gesetzliche Minimum ihnen nur den 
Anlaß zu weiterer Anstrengung bietet. Soweit aber schließlich in großen Kreisen der 
Arbeiterschaft der Zrrtum sich festgesetzt hat, es müsse eigentlich von Staats wegen bei 
Krankheit, Unfall oder Invalidität in einer Weise gesorgt werden, die ihnen den Ertrag 
einer vollständigen Erwerbsfähigkeit ersetzen würde, muß eine Aufklärungsarbeit ein- 
setzen. Es muß immer deutlicher gemacht werden, daß in der Vorbeugung und Heilung 
und nicht in der Zuführung von Millionen Menschen an die etwa ihren ganzen Lebens- 
unterhalt auf sich nehmende Staatskrippe das Ziel der Sozialversicherung liegt. Eng 
zusammen hängt biermit die viel beklagte Erscheinung der Simulation und die der 
Kentenhysterie, auf die in diesem Zusammenhang hingewiesen werden mußte. 
III. 
Zu Einsichten, die einen Zusammenhang mit der sozialen und allgemeinen Politik 
erkennen lassen, führen die Regelungen über die Träger der Bersicherung, über die Ver- 
sicherungsbehörden und das Organisationsproblem. 
Versicherungsträger. Was zunächst die Träger der Reichsversicherung angeht, 
so hat die Reichsversicherungsordnung am bisherigen 
Rechte hieran wenig geändert. An sich bleiben die Krankenkassen für die Kranken-, 
die Berufsgenossenschaften für die Unfall- und die Bersicherungsanstalten für die In- 
validenversicherung, diese auch für die neu hinzugekommene Hinterbliebenenversicherung, 
in Wirksamkeit. Von besonderem Interesse ist aber, in welcher Weise die einzelnen 
Träger spezialisiert sind, insbesondere, welche Kassenarten vorkommen. Aberdies sind das 
Reich, der Bundesstaat, die Gemeinde, ein Gemeindeverband oder eine andere öffentliche 
Körperschaft in besonderem Falle Versicherungsträger, ebenso die sogen. Sonderanstalten 
  
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