Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
92 Die Reichsversicherung. II. Buch. 
  
der Ortskrankenkasse zu schaffen, ist nicht geglückt. Man wird dies auch nicht allzusehr be- 
dauern dürfen. Denn die verschiedenen Kassenformen entsprechen inneren Bedürfnissen, 
sie haben geschichtliche Ursachemn; auch die historische Kontinuität zu wahren, erschien als 
eine nicht geringe Aufgabe. Uberdies waren die besonderen gewerblichen, industriellen, 
handwerksmäßigen Produktionsformen auf eine ihrer Eigenart entsprechende Kassen- 
form angewiesen. Dies ist am klarsten zu ersehen bei den Betriebskrankenkassen. Die 
für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland am 
meisten charakteristische Form des Fabrikbetriebs ver- 
langte auch hinsichtlich der sozialpolitischen Fürsorge 
eine ihr gemäße Gestaltung. Wenn in einem geschlossenen Betriebe Arbeiter zu einer 
Tätigkeit zusammengefaßt werden, bei der das Ganze und die Teile in einem Verhältnis 
des Aufeinanderangewiesenseins stehen, so wich diese Erscheinung sehr wesentlich ab von 
allen anderen gewerblichen Tätigkeiten, die der örtlichen und sachlichen Geschlossenheit ent- 
behren. Die in einer Fabrik tätigen Personen stehen in einem engeren Zusammenhang 
miteinander als die freien Arbeiter außerhalb eines solchen Betriebs; sie können sich gegen- 
seitig besser überrwachen, die Simulation verhüten oder auf ein Mindestmaß einschränken. 
Die Krankheitsgefahr ist mehr oder minder eine gleichmäßige, so daß hier die zu machenden 
Aufwendungen der Arbeitgeber oder Arbeitnehmer von vornherein auf einer bestimmten, 
sachlich vorausgesetzten Höhe stehen, ohne die Schwankungen, die notwendig sind in einer 
Kasse, in der Personen mit allerverschiedenster Krankheitsgefahr ausgenommen werden. Die 
großen Vorteile der Betriebskrankenkassen zeigten sich schon vor dem Krankenversicherungs- 
gesetz, speziell in Elsaß-Lothringen, und auch später: außerordentlich hohe Leistungen, ver- 
hältnismäßig geringe Beiträge. Die Schattenseiten der Betriebskrankenkassen sind aller- 
dings in keiner Weise zu verdecken. Dem Arbeitgeber, der freilich ein großes finanzielles Ri- 
siko trägt, ist in der Verwaltung der Kasse ein großer Einfluß eingeräumt. Klagen über die 
Beschränkung der Selbstverwaltung durch die Arbeiter kommen immerhin vor. Solche 
Versicherten, die sich etwa dem Vorstande mißliebig machen, sind stets der Gefahr aus- 
gesetzt, von dem Fabrikherrn entlassen zu werden, wenn auch unter Wahrung der recht- 
lichen Formen. Zedoch ist zu bedenken, daß die sozialpolitisch rückständige Auffassung, 
der Fabrikherr wolle auch in bezug auf die Versicherung „Herr im eigenen Hause“ blei- 
ben, sich heute nur noch ganz vereinzelt findet. Die meisten Arbeitgeber wissen genau, 
welchen Gefahren sie sich bei der Beschränkung der Selbstverwaltung aussetzen, daß 
insbesondere die hinter den organisierten Arbeitern stehenden Gewerkschaften in der 
Lage sind, in solchen Fällen recht unangenehme Folgen herbeizuführen. Sodann wird 
gegen die Betriebskrankenkassen eingewendet, daß sie nur kräftige und gesunde Arbeiter 
einstellen, die älteren, etwa über 40 Jahre alten, die kranken und hinfälligen abzustoßen 
pflegen, indem der Arbeitgeber ihnen in dieser seiner Eigenschaft kündigt. Gewiß 
kommen auch mancherlei Unzuträglichkeiten vor, doch muß beachtet werden, daß 
der Fabrikbetrieb in den allermeisten Fällen große Ansprüche an die Gesundheit und 
unversehrte Kraft der in Frage kommenden Angestellten stellt, und daß es deshalb gar 
nicht möglich wäre, mit einem anderen als jüngeren und kräftigeren Arbeitermaterial 
auszukommen. Es mögen dies sachliche Notwendigkeiten sein, die mitunter auch etwas 
Betriebskrankenkassen, 
ihre Vor- und Nachteile. 
  
  
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