II. Buch. Die Reichsversicherung. 95
binnen kurzem ein Orittel bis die Hälfte aller Einwohner des Deutschen Reiches von
der Sozialversicherung erfaßt sein wird. Die organisatorische Form der Landkranken---
kasse freilich unterliegt erheblichen Bedenken. Die Selbstverwaltung ist auf ein ge-
ringes Maß eingeschränkt, die Leistungen in manchen Punkten absichtlich hinter die-
jenigen der gewerblichen Arbeiter in andern Kassen zurückgeschraubt. Bestehen auch
Besonderheiten, soll man auch ländlichen Verhältnissen immerhin Rechnung tragen,
so war es doch nicht richtig, gerade in diesen beiden Punkten eine Differenzierung vor-
zunehmen. Die Landkrankenkassen sollen nämlich keineswegs nur auf dem Lande er-
richtet werden, sondern auch in den Städten, soweit ihre Errichtung nicht aus besonderen
Gründen, die das Gesetz anerkennt, unterbleiben darf. Es muß aber besonders auf die in
den städtischen (!) Landkrankenkassen befindlichen Versicherten geradezu politisch aufreizend
wirken, wenn die Selbstverwaltung und die Leistungen auf einem ganz anderen Stand ge-
halten werden, wie die der gewerblichen Arbeiter derselben Ortschaft in anderen Kassen.
Schon infolge dieser räumlichen Gemeinschaft vieler Versicherten, die teils in der Orts-,
teils in der Landkrankenkasse sich befinden, ist die geltend gemachte Erwägung unrichtig, daß
die letzteren noch nicht die sozialpolitische Keife besitzen und deshalb mit einer geringeren
Selbstverwaltung vorliebnehmen müßten. Gerade die Zulassung zu selbständiger Be-
tätigung führt zu sozialem Verständnis, zur Eingliederung in den staatlichen Orga-
nismus und bindert jene radikalen, umstürzlerischen Gedanken, die denselben Boden,
auf dem sie stehen und der ihnen Nahrung gibt, unheilvoll aufwühlen wollen. Das un-
erfreuliche Vorbild für die Landkrankenkassen gab die Gemeindekrankenversicherung,
die eine Einrichtung der Gemeinde und nicht eine selbständige Kassenform war und mit
dem 1. Januar 1914 aufgehoben wird. Hier fehlte es nicht nur an der Selbstverwaltung,
es waren auch die Leistungen höchst bescheiden und die Gemeinden selbst vielfach ge-
zwungen, Zuschüsse beizusteuern. Immerhin betrug die Zahl der Mitglieder der Ge-
meindekrankenversicherung im Fahre 1911 1 700 696 Personen; an Krankheitskosten sind
in demselben Zahr aufgebracht worden 24,5 Mill. Mark.
Die Ortskrankentassen. Den Haupttypus der Krankenkassen stellte bisher dar
und wird auch in Zukunft darstellen die Ortskrankenkasse.
Die Zahl der in dieser Form versicherten Mitglieder betrug 1911 7 217 908; die
Krankheitskosten erreichten den Betrag von 185,8 Mill. Mark. Auf dem Boden dieser
Organisationsform hat sich die Krankenversicherung am meisten entwickelt. Hier, wo
der Selbstverwaltung nur ganz geringe Schranken auferlegt sind, wo das natürliche
Ubergewicht der Versicherten auch mitbestimmend wirkt auf die Art und den Umfang
der Verwaltung, auf die Erweiterung der Leistungen, spielte sich aber auch ein er-
heblicher politischer Kampf, seltener an die Offentlichkeit gelangend, aber nach innen
doch um so bemerkenswerter, ab. Es ist nicht zu leugnen, daß es der politisch organi-
sierten Sozialdemokratie vielfach gelungen ist, in die Kassenvorstände und das Kassen-
beamtentum ihre eigenen Parteigenossen hineinzubringen. Hier setzt der Vorwurf eines
parteipolitischen Mißbrauchs der versicherungerechtlichen Einrichtungen ein. Wie weit
er berechtigt ist, läßt sich sehr schwer sagen. Nach meiner Uberzeugung handelt es sich um
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