I. Buch. Auswärtige Politik. 21
lichkeit, der Vertretung unserer deutschen Interessen in der Welt machtpolitischen Nach-
druck zu leihen. Ihr ist in erster Linie die Aufgabe zugedacht, unseren Welthandel, Leben und
Ehre unserer deutschen Mitbürger im Auslande zu schützen. Diese Aufgabe haben deutsche
Kriegsschiffe in Westindien und Ostasien erfüllt. Gewiß ist es eine vorwiegend defensive
Kolle, die wir unserer Flotte zuweisen. Daß diese defensive Rolle sich in ernsten inter-
nationalen Konflikten erweitern könnte, ist selbstverständlich. Wenn das Reich mutwillig
angegriffen werden sollte, gleichviel von welcher Seite, wird in unseren Zeiten die See
als Kriegsschauplatz eine ganz andere und vermehrte Bedeutung gewinnen als 1870.
Daß in einem solchen Fall die Flotte wie die Armee getreu der preußisch-deutschen
Tradition im Hieb die beste Parade sehen würde, darüber braucht kein Wort gesagt zu
werden. Böllig gegenstandslos aber ist die Sorge, die den Bau unserer Flotte begleitet hat,
es möchte mit dem Erstarken Deutschlands zur See die deutsche Angriffslust erwachen.
Von allen Völkern der Erde ist das deutsche dasjenige, das am seltensten angreifend
und erobernd vorgegangen ist. Wenn wir von den Römerfahrten der deutschen Kaiser
des Mittelalters absehen, deren treibende Kraft mehr ein großartiger traumhafter poli-
tischer Irrtum gewesen ist als ungebändigte Eroberungs- und Kriegelust, so werden wir
vergeblich in unserer Vergangenheit nach Eroberungskriegen suchen, die denen Frank-
reichs im 17., 18. und 19. Jahrhundert, denen des habsburgischen Spaniens, Schwedens
in seiner Glanzzeit, denen des russischen und englischen Keichs im Zuge ihrer grundsätzlich
expansiven nationalen Politik an die Seite zu setzen sind. Mehr als die Verteibigung und
Sicherung unseres Vaterlandes haben wir Deutschen in Jahrhunderten nie erstrebt.
So wenig wie der große König seine unbesiegten Bataillone nach der Eroberung Schlesiens
und der Sicherung der Selbständigkeit der preußischen Monarchie zu Abenteuern führte,
so wenig dachten Kaiser Wilhelm I. und Bismarck daran, nach den beispiellosen Erfolgen
zweier großer Kriege zu neuen Taten auszuholen. Wenn ein Volk sich der politischen
Selbstbeschränkung rühmen darf, so ist es das deutsche. Wir haben uns unsere Erfolge
immer selbst begrenzt und nicht abgewartet, daß uns durch die Erschöpfung unserer
nationalen Mittel eine Grenze gesetzt wurde. Unsere Entwicklung entbehrt deshalb der
Epochen blendenden plötzlichen Aufstiegs und ist mehr ein langsames unverdrossenes
Vorwärtsarbeiten und Fortschreiten gewesen. Oie rastlose Art anderer Völker, aus den
erreichten Erfolgen den Ansporn zu neuen größeren Wagnissen zu schöpfen, fehlt dem
Deutschen fast gänzlich. Unsere politische #rt ist nicht die des wagehalsig spekulierenden
Kaufmannes, sondern mehr die des bedächtigen Bauern, der nach sorgsamer Aussaat
geduldig die Ernte erwartet.
Nach dem deutsch-französischen Kriege war die Welt voll Furcht vor neuen kriege-
rischen Unternehmungen Oeutschlands. Kein irgendmöglicher Eroberungsplan, der uns
damals nicht angedichtet wurde. Seitdem sind mehr als vier JZahrzehnte vergangen. Wir
sind an Volkskraft und materiellen Gütern reicher, unsere Armee ist stärker und stärker ge-
worden. Oie deutsche Flotte entstand und entwickelte sich. Die Zahl der großen Kriege,
die seit 1870 ausgefochten wurden, war eher größer denn geringer als früher in dem glei-
chen Zeitraum. Deutschland hat die Teilnahme an keinem gesucht und allen Versuchen,
in kriegerische Verwicklungen hineingezogen zu werden, kühl widerstanden.
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