96 Die Reichsversicherung. II. Buch.
vereinzelte Vorkommnisse schroffer Art, während man für die Negel sagen muß, daß die
parteipolitische Zugehörigkeit der in den Kassen vielfach herrschenden sozialdemokrati-
schen Genossen eine sachliche, auf möglichste Erweiterung der Leistungen abzielende
Verwaltung keineswegs gehindert hat. Man muß auch bedenken, daß die Gesetzgebung
grundsätzlich die Selbstverwaltung einräumt und damit von vornherein den Arbeitern
ein großes Naß von Selbständigkeit gewährt hat, das sie nur sehr schwer unter Spal-
tung ihrer Persönlichkeit in eine politische und nicht politische durchführen können. Es ist
aber in der Reichsversicherungsordnung auch dafür gesorgt, daß eine einseitige Partei-
herrschaft der Sozialdemokratie unterbunden wird, so durch die Einführung der Ver-
hältniswahl, die auch den Minoritäten einen Einfluß sichert, durch die Bestimmungen
über die Aufsicht der Staatsbehörden. Man darf auch nicht vergessen, daß der den anglo-
amerikanischen Bölkern so äußerst unspmpathische Zwang auch bei uns in Deutschland
binsichtlich der Sozialversicherung nur dann erträglich und durchführbar ist, wenn ein
weitgehendes Selbstverwaltungsrecht die äußere, aber auch innere Teilnahme der Ver-
sicherten garantiert. Bei dieser Notwendigkeit sind eben eine Reihe von Nachteilen mit
in Kauf zu nehmen. Nichts kann dem Ansehen, der Kraft und Wirkung der deutschen
Sozialversicherung im In- und Auslande schädlicher sein, als wenn sich der schon viel-
fach gehörte BVorwurf einer Bureaukratisierung im ganzen und im einzelnen bewahr-
heitete.
Oie Knappschaftskassen. Aur mit einem Wort mag der Knappschaftskassen ge-
dacht werden, die einzelstaatlicher Regelung in den
Berggesetzen unterliegen. Sie müssen nach der Reichsversicherungsordnung ihren Mit-
gliedern durch die Satzung mindestens die Regelleistungen der Ortskrankenkassen zu-
billigen. Selbstverständlich sind dann die Knappen nicht verpflichtet, einer anderen Kasse,
insbesondere der Ortskrankenkasse, anzugehören.
Zuschuß- und Ersatzkassen. An Stelle der eingeschriebenen Hilfskassen sind zwei
neue Organisationsformen getreten, von denen die
eine, die Zuschußkasse, aus jeder Beziehung mit der Reichsversicherung ausscheidet.
Dagegen ist die Ersatzkasse, die in der Form eines Versicherungsvereins auf Gegen-
seitigkeit auftritt, insofern privilegiert, als sie unter gewissen Voraussetzungen zu-
gelassen wird und für Bersicherungspflichtige, die Mitglieder einer Ersatzkasse sind,
auf ihren Antrag die eigenen Rechte und Pflichten als Mitglieder der Krankenkasse, in
die sie gehören, ruhen. Die Arbeitgeber hatten früher sich jedoch vielfach der Bei-
tragsleistung aus der Sozialversicherung entzogen, indem sie die einzustellenden Ar-
beiter verpflichteten, einer eingeschriebenen Hilfskasse anzugehören, deren Beiträge die
Versicherten allein vollständig aufzubringen hatten. Die Reichsversicherungsordnung
baut hier vor. Die Arbeitgeber haben nur den eigenen Beitragsanteil an die Kranken-
kassen einzuzahlen; der Anteil der Versicherten fällt weg. Welche Bedeutung die einge-
schriebenen Hilfskassen reichs- und landesrechtlicher Art hatten, ergibt sich daraus, daß
die Mitgliederzahl der ersteren 1911 betrug 6,8 Millionen, die der landesrechtlichen
232