Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
118 Finanzen und Steuern. II. Buch. 
  
Von Finanzreformen spricht man eigentlich solange das Reich besteht; größere und 
lleinere wechseln miteinander ab und folgen sich in immer kürzeren Zwischenpausen. 
Wie kommt dies? Liegt dies in der Natur der Einnahmen des Reiches oder haben andere 
Arsachen dieses endlose Drama, wie es G. Cohn einmal nennt, verursacht? 
Es war sozusagen natürlich, daß das Reich sein Einnahmewesen zunächst auf Zölle 
und einige Verbrauchssteuern gründete, die schon im Zollverein und im Norddeutschen 
Bund die gemeinsamen Einnahmen bildeten. Ihre Verwendung für das Reich störte 
das Finanzwesen der Einzelstaaten nicht, verhütete Neibungen und Rivalitäten, wie 
sie leicht entstehen konnten, wenn das Reich Steuern für sich in Anspruch genommen 
hätte, die den Haushalt der Gliedstaaten alimentierten. Zudem waren Zölle, Verbrauchs-- 
und die bald hinzutretenden Verkehrssteuern in Deutschland noch wenig entwickelt und 
also ausbaufähig. Sie ergaben im Zahre 1875 in England 27,28, in Frankreich 25,83 M. 
auf den Kopf der Bevölkerung, im Deutschen Reich einschließlich der Bundesstaaten 
etwa 7 M. Von den gesamten Einnahmen entfielen im gleichen Jahre in Frankreich 
435,4, in England 58,5, in Deutschland kaum 20% auf sie. Man wird also zugeben müssen, 
daß sie im Vergleich mit diesen beiden anderen Staaten einer Steigerung fähig waren. 
Aber die Verhältnisse waren ihrem Ausbau nicht günstig. In Frankreich und England 
stammt ihre ergiebige Ausnützung aus einer Zeit, in der man eine kräftige Besteuerung 
des Massenkonsums von entbehrlichen Genußmitteln als selbstverständlich ansah und das 
bestechende Schlagwort vom Pfeischen des armen Mannes noch nicht geprägt war. 
Die ersten Jahre nach der Gründung des Deutschen Reiches aber standen unter der Herr- 
schaft des volkswirtschaftlichen Kongresses, dessen Anhänger dem Staat überhaupt nur 
ein Mindestmaß der Betätigung gestatten wollten, und, wenn Steuern bewilligt werden 
sollten, nur für die allgemeine Einkommensteuer und vielleicht auch die Vermögens- 
steuer zu haben waren, also Steuern, die in jener Zeit verfrüht und für das Reich aus 
politischen und wirtschaftlichen Gründen unerreichbar waren. 
Oie tatsächlichen Verhältnisse, die Anderungen in den wirtschaftlichen Anschauungen 
und in den Parteigruppierungen sind über jene Doktrinen hinweggeschritten. In der 
Zollpolitik mußte die freihändlerische Richtung der schutzzöllnerischen weichen. Das 
Wachsen der Reichsausgaben war so wenig aufzuhalten, wie ein weiteres Ausnützen 
der Verbrauchssteuern und ein Zugriff auf Berkehrssteuern. Aber mit unsäglicher Mühe 
und der fruchtlosen Arbeit vieler Zahre mußten die Mittel den gesetzgebenden Faktoren 
abgerungen werden. Immanent schien dem Reichstag das Mißtrauen gegen die Forde- 
rungen der Reichsregierung. Aur nicht zu viel bewilligen, war die Losung. Und da 
dann immer zu wenig bewilligt und das Bewilligte durch die Franckensteinsche Klausel 
künstlich verringert wurde, so standen stets neue Forderungen vor der Türe und weder 
Regierung, noch Reichstag, noch Publikum kamen zur Ruhe. Freilich haben Zölle und 
Verbrauchssteuern auch fatale Eigenschaften: ihr Ergebnis ist in hohem Maße abhängig 
von den jeweiligen wirtschaftlichen Berhältnissen; günstige Konjunkturen erhöhen es, 
ungünstige machen es sinken. Aicht selten versagen sie gerade in Zeiten, in denen der 
Staat höherer Einnahmen bedarf. Bei einer so stürmischen Entwicklung der Ausgaben, 
wie wir sie im Reich hatten, reicht ihr natürliches, d. h. das durch Wohlstandsmehrung 
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