Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
III. Buch. Das bürgerliche Recht. 11 
  
die konsequente Durchführung von Prozeßprinzipien legte. Oie Herrschaft über den 
Prozeß nahm man dem Gericht und legte sie ebenso wie die Betreibung des Prozesses 
(durch Zustellung und Ladung) in die Hände der Parteien oder richtiger ihrer Anwälte. 
Ganz rein und voll wurde das Prinzip der Mündlichkeit durchgeführt, so konsequent 
und — weltfremd, daß das Gesetz sogar vor dem Amtsgerichte von den Bürgern und 
Bauern verlangte, daß sie dem Richter den Prozeßstoff in freier NRede vortragen sollten. 
Nun begann in den achtziger Jahren eine eigentümliche Rechtsentwicklung. Das 
ist der Ruf und die BVerwirklichung des Rufs nach Sondergerichten. Daß die Mängel 
des Verfahrens, die mehr und mehr hervortraten, von den Bätern der 8O. nicht zuge- 
geben wurden, oder daß doch ihr Grund nicht im Soystem, sondern in andren Umständen 
gefunden wurde, ist leicht erklärlich, sonach auch die Folge: das Unterbleiben einer gründ- 
lichen Revision der Prozeßordnung. ANicht für eine solche verwertete man die bessere 
Einsicht, die man inzwischen gewonnen hatte, sondern für die Ausgestaltung des Verfah- 
rens vor den durch das Gesetz über die Gewerbegerichte vom 29. Juli1890 eingerichteten 
Sondergerichten für gewerbliche Streitigkeiten. Durch Gesetz vom 30. Zuni 1901 wurde 
dieses Gesetz revidiert, und nach seinem Muster wurde unter dem 6. Zuli 1904 das Gesetz 
über die Kaufmannsgerichte erlassen. Gewiß war der Grund für diese Gesetze nicht nur 
die Unzufriedenheit mit dem ordentlichen Prozesse, sondern auch das Bestreben, die hier 
in Frage kommenden Streitigkeiten durch Gerichte entscheiden zu lassen, in denen nicht 
nur die Rechtskunde, sondern auch eine besondere Kunde der in Frage stehenden Ver- 
hältnisse vertreten war. Aber diesen die moderne Rechtsbewegung nicht nur auf dem 
Gebiete des Strafprozesses charakterisierenden Bestrebungen hätte man auch dadurch ge- 
nügen können, daß man jene Standesgerichte den Amtsgerichten angegliedert hätte. 
Dazu hätte es jedoch einer allgemeinen Prozeßreform bedurft, zu der man noch nicht die 
Lust oder die Kraft hatte. 
Zwar wurde die Prozeßordnung und Konkursordnung durch eine umfassende No- 
velle von 1898 umgestaltet; diese beschränkte sich aber im wesentlichen auf solche Punkte, 
in denen das Prozeßrecht in so innigem Zusammenhange mit dem bürgerlichen Rechte 
steht, daß mit dessen Anderung auch eine Anderung oder Ergänzung des Prozeßrechts 
notwendig schien. So trat denn auch die Novelle von 1898 zusammen mit dem BE. 
am 1. Januar 1900 in Kraft, gleichzeitig mit einem umfassenden Spezialprozeßgesetze, 
das die Zwangsvollstreckung in das unbewegliche Vermögen regelt, eine Materie, die 
manbis dahinmit Rücksicht auf die Verschiedenheit des Immobiliarsachenrechts dem Landes- 
recht hatte überlassen müssen. Die umstrittenen Grundsätze über das Verfahren, auf 
die sich der Ruf nach einer Prozeßreform bezog, ließ diese erste große Novelle von 1898 
unberührt. Nachdem zwecks Entlastung des Reichsgerichts die Revisionssumme von 
1500 auf 2500 Mark erhöht worden war (im Zahre 1910 wurde abermals eine Erhöhung 
auf 4000 Mark nötig), folgte am 1. Zuni 1909 eine zweite große Novelle. Der Entwurf 
wollte sich grundsätzlich auf eine Reform des Amtsgerichtsprozesses beschränken, griff 
aber doch in wenigen Punkten auch in das landgerichtliche Berfahren ein. ODurch den 
Reichstag wurden diese Punkte erheblich vermehrt. Gleichwohl ist der Landgerichtsprozeß 
grundsätzlich derselbe geblieben, wie er bisher war. Die wesentlichste Anderung des 
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