28 Auswärtige Politik. I. Buch.
und nicht unfreundlich für Deutschland, und Kaiser Nikolaus gab der Welt einen neuen
Beweie seiner Weisheit und Friedensliebe, indem er sich für einen gütlichen Ausgleich
der bestehenden Schwierigkeiten entschied. Die kunstvolle Einkreisung und Isolierung
Deutschlands, während einiger Zeit das Schreckbild ängstlicher Gemüter, entpuppte
sich als ein diplomatisches Blendwerk, dem die realpolitischen Voraussetzungen fehlten.
Der ihr zugrunde liegende Rechenfehler war der gewesen, daß sie die europäische Groß-
machtstellung des Deutschen Reichs nicht mit ihrem vollen Wert als Faktor in die politische
Rechnung eingestellt hatte. Gewiß, wenn es gelänge, unserer Stellung in Europa einen
empfindlichen Stoß zu versetzen, so würde auch unsere Weltpolitik tödlich getroffen
werden. Soweit war die Rechnung der Einkreisungspolitik richtig. Aber wir sind so
leicht auf dem Festlande nicht zu treffen. Der Dreibund ist eine Macht, gegen die sich
um ferner liegender Interessen willen selbst von einer geschickten Diplomatie keine Macht
vorschieben läßt, gegen die jede Maccht den Kampf nur um letzte Lebensfragen wagen
kann. Last not least sind die Festlandmächte vielfach durch Interessen verbunden, die
sich der deutsch-englischen Kivalität auf der See und im Welthandel nicht unterordnen
lassen. Nur mit England steht ODeutschland in weltpolitischer Verrechnung. Bei allen
anderen europäischen Mächten kommt die kontinentalpolitische Gegenrechnung für die
Gestaltung ihrer Beziehungen zum Deutschen Reich entscheidend in Betracht.
Das war die große Lehre der bosnischen Krise, daß unsere Weltpolitik im letzten
Ende auf unserer Kontinentalpolitik ruht. Unsere Weltpolitik hatte uns in Gegensatz zu
England gebracht. Gegen die deutsche Welthandels- und Seemacht war die Einkreisungs-
politik gerichtet, die eine ernste Gefährdung unserer Sicherheit zu werden schien.
Durch unsere Stärke als Kontinentalmacht haben wir das Einkreisungsnetz zerrissen,
so daß jenseits des Kanals jene Ernüchterung eintreten konnte, die einer Epoche ruhigen
Gedankenaustauschs und verständigen Interessenausgleichs zwischen den beiden Nationen
vorangehen mußte. Der Besuch, den König Eduard dem deutschen Kaiserpaar im
Winter 1909, unmittelbar nachdem in der bosnischen Krisis die entscheidende Wen-
dung eingetreten war, in der Reichshauptstadt abstattete, nahm einen befriedigenden
Verlauf. Der König fand eine herzliche Aufnahme. Er wußte seinerseits durch die
aufrichtige Friedensliebe und warme Freundschaft, die er wiederholt zum Ausdruck
brachte und die bald nachher in der englischen Thronrede wie in der Adreßdebatte des
englischen Parlaments noch bekräftigt wurde, den günstigen Eindruck seines Besuches
zu unterstreichen und zu vertiefen. Mit diesem letzten Besuch des Königs Eduard in
Berlin fiel ein freundliches und für die Zukunft gute Hoffnungen erweckendes Licht
nicht nur auf das Verhältnis des Königs zu Deutschland, sondern auch auf die Bezie-
hungen zwischen zwei großen Völkern, die allen Grund haben, sich gegenseitig zu achten
und friedlich in Friedensarbeiten miteinander zu wetteifern. Rückschläge konnten natür-
lich eintreten. Sie sind tatsächlich nicht ausgeblieben. Der Rückschlag im Sommer 1911
war sogar ziemlich heftig. Aber der Bersuch, den deutsch-englischen Gegensatz zu einem
Sostem der gesamten internationalen Politik zu erweitern, wird kaum wiederholt werden
und würde, wenn er unternommen werden sollte, wiederum seine Grenze finden an den
barten Tatsachen der Kontinentalpolitik, deren härteste der Dreibund ist.
28