III. Buch. Der Strafprozeß. · 4
Indem die Reichsregierung nunmehr von neuem
eine Reform des Strafprozesses in Angriff
nahm, stellte sie sich auf den Standpunkt, daß eine
solche, wenn sie Aussicht auf Erfolg haben wolle, sich nicht auf die Einführung der Be-
rufung gegen die Urteile der Strafkammern beschränken dürfe, sondern über den
NRahmen der bisherigen Abänderungsvorschläge hinaus eine allgemeine Revision des
Strafprozesses in Aussicht nehmen müsse. Vor allem handelte es sich um die schon bei
Beginn der Vorarbeiten zur Str PO. neben der Berufung im Vordergrund gestandene
Frage, in welchem Umfang Laien zur Mitwirkung bei der Strafrechtspflege zu berufen
seien. Und damit stand dann die gleichfalls vielfach einen Gegenstand der Erörterung
bildende weitere Frage in Zusammenhang, in welcher Form diese Mitwirkung der Laien
zu gestalten, insbesondere, ob das Schöffenspystem konsequent durchzuführen und dem-
gemäß auch an die Stelle der Schwurgerichte — große — Schöffengerichte zu setzen
seien, wie dies der I. (Leonhardtsche) Entwurf vorgeschlagen hatte. Daneben waren
neuerdings eine Reihe von NReformvorschlägen gemacht worden, die eine Umgestaltung
einzelner Teile oder Grundsätze des Strafverfahrens forderten. So die Umgestaltung
des Vorverfahrens, die Stellung der Verteidigung, Einschränkung des für die Staats-
anwaltschaft als Strafverfolgungsbehörde geltenden Legalitätsprinzips und das sozial
hochbedeutende Problem der Behandlung jugendlicher Täter.
Zur Vorbereitung einer so umfassenden Reform der Str PO. rief die Reichsver-
waltung Anfang 1903 eine Kommission zusammen, die über die verschiedenen in Be-
tracht kommenden Fragen ohne amtliche Instruktionen nach ihrer freien Uberzeugung
und ihren persönlichen praktischen Erfahrungen beschließen, deren Beschlüsse aber für
die weiteren gesetzgeberischen Vorarbeiten nur die Bedeutung gutachtlicher Vorschläge
haben sollten. Sie bestand aus 2 Universitätslehrern (van Calker und Wach), 10 Nichtern,
4 Staatsanwälten und 5 Rechtsanwälten. Sechs von den Mitgliedern waren dem Reichs-
tag entnommen, und zwar insbesondere aus denjenigen Reichstagsmitgliedern, die
nach dem Scheitern der Regierungsvorlagen weitere Reformvorschläge im Reichstag
eingebracht hatten. Diese sogenannte Reformkommission, an deren Beratungen meist
der Staatssekretär des Reichsjustizamts Nieberding und als ständige Kommissare die
vortragenden NRäte von Tischendorf und Grzywarz aus dem Reichsjustizamt teilnahmen,
tagte unter dem Vorsitz des Reichsgerichtsrats Kaufmann bis zum 1. April 1905 und hat
nach allgemeinem Urteil auf Grund der reichen Sachkenntnis und Erfahrung, die ihr
zu Gebot standen, ihre Aufgabe mit großer Hingebung und Gründlichkeit erledigt.
Neue Inangriffnahme einer
Reform des Strafprozesses.
Ihre Beschlüsse nahmen zu den Hauptfragen folgende Stellung:
1. Was die Organisation der erkennenden Strafgerichte
betrifft, so sprach sich die Kommission für dir Mitwirkung von Laien in allen
Stufen, und zwar in der Form der Schöffengerichte aus. Ebenso verlangte
sie für alle Gerichte Nachprüfung der Urteile in einer Berufungeinstanz auf
Grund einer abermaligen vollständigen mündlichen Verhandlung. Demgemäß
schlug sie vor, die Schwurgerichte zu beseitigen, drei verschiedene Stufen von
Hauptfragen.
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