Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
50 Der Strafprozeß. III. Buch. 
Schöffengerichten erster Instanz — kleine, mittlere und große Schöffengerichte — zu 
errichten und gegen deren Urteile Berufung an gleichfalls mit Schöffen besetzte Be- 
rufungsgerichte zuzulassen. 2. Zur Hebung der allgemeinen Klagen über das Zuvpiel- 
verfolgen der Staatsanwaltschaft wurde das Legalitätsprinzip — die unbedingte Ver- 
pflichtung der Staatsanwaltschaft zur Strafverfolgung aller strafbaren und verfolgbaren 
Handlungen, wenn die tatsächlichen Unterlagen ausreichen — in verständiger Weise 
eingeschränkt und im Zusammenhang damit der Privatklage mehr Raum gegeben. 
5. Die Voruntersuchung wurde beibehalten, aber den Parteien gegenüber öffentlich 
gemacht, die Rechte des Angeschuldigten und der Verteidigung in der Voruntersuchung 
verstärkt, die Fälle der notwendigen Verteidigung vermehrt und das Stadium des Ver- 
fahrens, in dem der notwendige Verteidiger zu bestellen ist, früher gelegt. 4. Endlich 
sollte in weniger erheblichen Sachen das Verfahren durch ausgedehnte Anwendung 
der Kontumazialverhandlung, des abgekürzten Verfahrens und der Strafbefehle ver- 
einfacht und beschleunigt werden. 6 
Die Protokolle und Beschlüsse dieser Reformkommission, die noch im Laufe des 
Fahres 1905 vom Reichsjustizamt veröffentlicht wurden, wie die Kritik, welche ihre 
Vorschläge in der Offentlichkeit, insbesondere in juristischen Vereinigungen und Fach- 
schriften fanden, bildeten neben den früheren Vorlagen und den Beschlüssen des Reichs-- 
tages die Grundlage für eingehende Erörterungen unter den verbündeten 
Regierungen, und so kann man gewiß sagen, daß der vollständige Entwurf einer neuen 
StrO. und einer Novelle zum Gerichtsverfassungsgesetz, die vom Bundesrat am 
23. November 1909 dem Reichstag vorgelegt wurden, sorgfältig und gründlich vorbereitet 
waren. 
Abweichungen des Von den Vorschlägen der Reformkommission wich der 
Bundesratsentwurf vor allem darin ab, daß er die 
Schwurgerichte beibehielt und zu den Be- 
rufungsgerichten keine Schöffen zuzog. Bei Ubertretungen und einigen leichteren 
Vergehen ließ er auch in 1. Instanz die Amtsrichter ohne Schöffen erkennen. Oie amts- 
gerichtlichen Schöffengerichte sollen nach ihm, wie gegenwärtig, mit 1 Richter und 
2 Schöffen, die Strafkammern als 1. Instanz mit 2 Richtern und 3 Schöffen, als Be- 
rufungsgerichte, nicht nur, wie bisher, bei Ubertretungen und Privatklagen, sondern 
allgemein mit bloß 3 Richtern besetzt werden. Für die Berufungen gegen die Urteile 
der Strafkammern wollte der Entwurf bei den Landgerichten — unter Gestattung der 
Zuziehung von Mitgliedern des Oberlandesgerichts — Berufungssenate von 5 Richtern 
bilden. 
Einem vielfach ausgesprochenen Wunsche gemäß bewilligte der Entwurf den Ge- 
schworenen, die gegenwärtig nur Reisekosten erhalten, zugleich Tagegelder, und den 
Schöffen, die gegenwärtig reichsgesetzlich weder Reisekosten noch Tagegelder erhalten, 
beides, um damit den Kreis der Personen zu erweitern, aus denen Geschworene und 
Schöffen entnommen werden können. 
Zur zweiten der Streitfragen zwischen Bundesrat und Reichstag, die bei Feststel- 
  
Bundesrats-Entwurfs. 
  
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