III. Buch. Völkerrecht. 63
Auch im Mittelalter waren die Verhältnisse der Ausbildung des Völkerrechts
insofern nicht günstig, als die Anschauung in Geltung war, daß die sämtlichen christlichen
Staaten ein einheitliches Weltreich unter Kaiser und Papst bildeten, da diese Zdee an
und für sich die Exristenz von voneinander unabhängigen und gleichberechtigten Staaten
ausschloß. Zn der Praxis konnte freilich die Idee eines einheitlichen Weltreichs nicht
verwirklicht werden; im Gegenteil bildeten sich gerade im Mittelalter die National-
staaten (Frankreich, England, Spanien usw.) aus, die, die Unterordnung unter Kaiser
und Papfst bestreitend, ihre Unabhängigkeit gegenüber jeder höheren Gewalt geltend
machten und daher die Anerkennung als souveräne Gemeinwesen beanspruchten, eine
Entwicklung, welche die Voraussetzung der beute geltenden Völkerrechtsordnung schuf.
Zmmerdhin hatte die vorerwähnte Zdee die Bedeutung, daß diechristlichen Staaten sich als
eine geschlossene Gemeinschaft gegenüber den nichtchristlichen Bölkern betrachteten, denen
zunächst die Anerkennung und Gleichberechtigung versagt wurde.
Nachdem die Reformation mit der ISdee eines christlichen Weltreichs mit dem Papste
als Spitze und Oberhaupt endgültig gebrochen hatte, trat mit dem westfälischen Frie-
den die Entwicklung und Ausbildung des modernen Völkerrechts ein, das durch Hugo
Grotius auch seine theoretische Begründung fand.
Oaß von dieser Zeit an eine neue Periode der Entwicklung des Völkerrechts zu
rechnen ist, liegt namentlich auch darin, daß der westfälische Friedensvertrag ein gleich-
berechtigtes Nebeneinanderbestehen von Staaten verschiedener christlicher Konfessionen
anerkannte und den Gedanken der internationalen Gemeinschaft insofern zum Aus-
druck brachte, als alle bedeutenderen Mächte Europas an demselben beteiligt waren
und gemeinsam wichtige, ganz Nitteleuropa berührende Fragen regelten.
Oie völkerrechtliche Gemeinschaft. Oie völkerrechtliche Gemeinschaft, die
so im Anschlusse an die Entwicklung im
Mittelalter und auf der Grundlage des westfälischen Friedens entstanden war, umfaßte
zunächst nur die auf europäisch-christlicher Kultur beruhenden Staaten, nämlich die
christlichen Staaten in Europa und die aus ehemaligen Kolonien europäischer Staaten
entstandenen staatlichen Gemeinwesen. Oiese Staaten bilden auch gegenwärtig noch
den Kern der völkerrechtlichen Gemeinschaft.
An diese, den Kern der völkerrechtlichen Gemeinschaft bildende Staatengruppe
haben sich im Laufe des vorigen Jahrhunderts verschiedene nichtchristliche Staaten
angeschlossen, die gegenwärtig ebenfalls als Mitglieder der völkerrechtlichen Gemein-
schaft betrachtet werden.
Zuerst wurde im JZahre 1856 durch den Pariser Frieden die Türkei mit ihren Va-
sallenstaaten „in das europäische Konzert ausgenommen“, später folgten andere nicht-
christliche Staatten, wie Persien, TChina, Japan, Siam usw.
1) Das bekannte Werk von Zugo Grotius „Oe jure belll ac pacis“ behandelt, ausgehend vom Kriegs-
rechte, auf naturrechtlicher Grundlage, jedoch mit Benützung reichen positiven Materials, das gesamte
Völkerrecht, in welchem Rechte Grotius die Rechtsordnung zum Schutze der Interessengemeinschaft der
Staaten im Gegensatz zur egoistischen Herrschsucht einzelner Staaten sucht.
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