Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
64 Vlkerrecht. III. Buch. 
  
Die Aufnahme dieser Staaten in die völkerrechtliche Gemeinschaft erfolgte des- 
halb, weil die Beziehungen derselben mit den christlichen Staaten sich fortwährend ver- 
mehrten und diese Staaten sich den Vorschriften des von den christlichen Staaten aus- 
gebildeten Völkerrechts im Krieg und Frieden unterwarfen und daher auch in diploma- 
tischen Verkehr mit den christlichen Staaten traten. 
Da aber die Verschiedenheit der Zivilisation und des auf derselben beruhenden 
Rechts zwischen den chriftlichen und den nichtchristlichen Staaten trotz mancher Annähe- 
rung, die in dieser Hinsicht allmählich eingetreten ist, fortbesteht, so ist eine völlige Gleich- 
stellung der nichtchristlichen Staaten mit den christlichen nicht erfolgt. Die christ- 
lichen Staaten erkennen nämlich nicht an, daß das in den nichtchristlichen Staaten gel- 
tende Privatrecht, Strafrecht und öffentliche Recht für ihre in solchen Staaten sich 
aufhaltenden Angehörigen in jeder Beziehung verpflichtend ist und geben daher nicht 
zu, daß dieselben der Gerichtsbarkeit des Aufenthaltsstaats unterstehen. Darauf beruht 
die Einrichtung der Konsulargerichtsbarkeit, die für Angehörige christlicher Staaten in 
nichtchristlichen Staaten (pays hors chrétienté) besteht#0. 
Jedenfalls hat sich infolge der angedeuteten Entwicklung das Völkerrecht, das zu- 
nächst nur die christlichen Staaten in Europa umfaßte und daher als „europäisches 
Völkerrecht“ bezeichnet wurde, im Laufe der Zeit auf immer mehr Staaten erstreckt 
und findet gegenwärtig in allen Weltteilen Anwendung. 
Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft können 
nur Staatensein, d. h souveräne Gemeinweseny. 
Die Souveränität ist eine wesentliche Eigenschaft des Staates, durch welche er sich von 
anderen Gemeinwesen, namentlich Gemeinden und Kommunalverbänden, unterscheidet. 
Oie Eigenschaft der Souveränität des Staates äußert sich in einer doppelten Richtung: 
Der Staat wird nämlich zunächst deshalb als souverän bezeichnet, weil es in jedem 
Staate nur eine höchste Gewalt gibt und geben kann, der alle dem Staate angehörigen 
bzw. im Staatsgebiete befindlichen Personen unbedingt unterworfen sind, so daß die- 
selben der Staatsgewalt gegenüber kein unverletzliches und unantastbares Recht haben 
(staatsrechtliche Souveränität). 
ODie Souveränität zeigt sich aber auch als völkerrechtliche darin, daß der Staat 
nach außen unabhängig und einer fremden Gewalt nicht unterworfen ist. Infolge dieser 
Unabhängigkeit sind die Staaten fähig, Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft 
zu sein, mit anderen Staaten in diplomatischen Verkehr zu treten, Verträge abzuschließen 
und namentlich auch Krieg zu führen, während diese Fähigkeit anderen menschlichen 
Gemeinwesen, wie insbesondere den Gemeinden und Kommunalverbänden und ebenso 
Religionsgesellschaften fehlt. Weil die Staaten souveräne Gemeinwesen sind, können sie 
Begriff der Souvperänität. 
  
1) Japan hat jedoch in der neuesten Zeit (seit 1900) die Aufhebung der Konsulargerichtsbarkeit in seinem 
Gebiete und die grundsätzliche Gleichstellung mit den christlichen Staaten dadurch erreicht, daß es sein Privat- 
recht und sein öffentliches Recht möglichst den europäischen Gesetzen anpaßte. Ugl. Ullmann, a. c. O. S. 55, 
199, 226. « 
s)Bgi.darübermeineSchrift-«We1tftactmwFrieden-ptoblem«,S.4ff. 
320
	        
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