32 Auswärtige Politik. I. Buch.
ein ergiebiges und fruchtbares Betätigungsfeld, auf das schon Rodbertus und Friedrich
List hingewiesen hatten, und das wir mit großem Vorteil bestellt haben. Für den un-
erwünschten aber nicht unmöglichen Fall eines allgemeinen Krieges hätte sich die mili-
tärische Kraft der Türkei zu unserem Autzen fühlbar machen können. Für unseren öster-
reichischen Bundesgenossen war die Türkei der denkbar bequemste Nachbar. Daß ihr
Zusammenbruch einen Verlust auch für uns bedeutete, zeigte die Einbringung der letzten
Militärvorlage, die mit der durch den Balkankrieg geschaffenen Situation begründet
wurde. Uber die Grenzen der türkischen Leistungsfähigkeit habe ich mir keine Illu-
sionen gemacht. Schon weil ich diese Grenzen kannte, habe ich während vieler Jahre
mit Erfolg darauf hingewirkt, daß es im nahen Orient zu keinem ernsten Konflikt kam:
So 1897 während der Kreta-Verwickelung, 1908/09 während der bosnischen Annezions-
krisis und in allen Phasen der mazedonischen Frage. Die Gefahr lag nahe, daß ein
ernster Konflikt auf der Balkanhalbinsel für uns wie für ÖOsterreich-Ungarn mehr un-
günstige als günstige Folgen nach sich ziehen und unsere europäische Position nicht er-
leichtern würde. Die Türkei ist lange Jahre ein nützliches und wichtiges Glied in der
Kette unserer politischen Beziehungen gewesen.
Für absehbare Zeit wird unsere Stellung im Dreibund der Schwerpunkt unserer
auswärtigen Politik bleiben. Der Dreibund hat an Wert für uns gewonnen in dem
Maße, in dem sich durch unseren Ubergang zur Weltpolitik und durch das Anwachsen
unserer Flotte die Reibungskoeffizienten zwischen Deutschland und England vermehrten,
aber auch durch die Veränderung der internationalen Lage, die der Abschluß des
russisch-französischen Bündnisses mit sich brachte.
Rußland. Die guten Beziehungen zum Zarenreich hatte das neue Deutsche Reich
von Preußen geerbt. Bis auf die mehr auf persönlichen als auf sachlichen
Gründen beruhende Feindschaft der Zarin Elisabeth gegen Friedrich den Großen und den
Scheinkrieg, den Preußen und Rußland 1812 gegeneinander führten, hat Preußen Ruß-
land und Rußland Preußen kaum je auf der Seite der Gegner gesehen. Das schwierige
polnische Teilungswerk hat wohl vorübergehende Reibungen verursachen, nicht aber
tiesgehende Gegensätze hervorbringen können. Gerade die polnischen Angelegenheiten
haben Preußen und Rußland oft zusammengeführt. Für beide Reiche liegt in der pol-
nischen Gefahr eine Mahnung, sich nicht zu entzweien, sondern die gemeinsame Abwehr
großpolnischer Aspirationen als eine Brücke zu betrachten, auf der Preußen und Nuß-
land sich immer wieder begegnen können. Während der ersten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts waren die Beziehungen zwischen dem preußischen und dem russischen Herrscher-
hause über das konventionelle Maß hinaus intim, so daß sie auch in der Politik der beiden
Reiche zum Auedruck kamen. Zn der schweren Zeit des Krimkrieges erleichterte die
freundschaftliche Haltung Preußens die Stellung Rußlands nicht unwesentlich, und sie
fand ihr Gegenstück in der Haltung, die Kaiser Alexander llI. im Deutsch-Französischen
Kriege einnahm. Als nicht lange nach dem Abschluß des Frankfurter Friedens, im
September 1872, die beiden Kaiser von Rußland und Österreich sich in der Hauptstadt
des neuen deutschen Reichs mit dem ehrwürdigen Sieger des großen Bölkerringens
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