Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
82 Volkerrecht. 11I. Buch. 
  
Znwieweit diese Odeen und Forderungen berechtigt waren bzw. sind, mag hier 
dahingestellt bleiben. Zedenfalls dürfte so viel zweifellos sein, daß die seit der franzö- 
sischen Revolution in allen Staaten in immer größerem Umfange eingetretene Demokrati- 
sierung des Verfassungsrechts große Nachteile gehabt hat. Namentlich hat vielfach die 
Autorität der Staatsgewalt Schaden gelitten und haben Bevölkerungsklassen im Staats- 
leben eine politische Macht erlangt, auf die sie nach ihrer sozialen Stellung und ihrer 
Bildungsstufe keinen begründeten Anspruch haben. 
Wie seit der französischen Revolution eine immer größere Demokratisierung des 
gesamten öffentlichen Lebens in den meisten Staaten eingetreten ist, so macht sich viel- 
fach im Anschlusse an die Zdeen und Grundsätze der Revolution und der in derselben 
zutage getretenen kosmopolitischen Richtung namentlich seit einigen Zahrzehnten inner- 
halb der völkerrechtlichen Gemeinschaft eine „Flutwelle des Znternationalismus“ geltend, 
der danach strebt, die Grundlagen des geltenden Völkerrechts vollständig zu verändern. 
Das geltende Völkerrecht beruht auf dem Grundsatze der Souveränität und 
Unabhängigkeit der Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft, die als souveräne 
Gemeinwesen weder eine gesetzgebende noch eine richterliche Gewalt über sich aner- 
kennen und anerkennen können. Allerdings bildet neben der Souveränität der Staaten 
eine weitere Grundlage der völkerrechtlichen Gemeinschaft und des in derselben gelten- 
den Völkerrechts das Bewußtsein der Solidarität gewisser Interessen, da sich ohne dieses 
Bewußtsein weder die völkerrechtliche Gemeinschaft noch das Völkerrecht hätte bilden 
können; welche Znteressen als gemeinsam zu betrachten sind, ergibt sich auch erst wieder 
aus der Anerkennung seitens der souveränen Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft. 
Demgegenüber strebt der Znternationalis- 
— mus, wie er namentlich durch die sog. Pazi- 
fisten vertreten ist, danach, die sämtlichen Mit- 
glieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft in einer Weltföderation zu vereinigen, in der 
natürlich die einzelnen Staaten in ihrer Souveränität sehr erheblich durch die über 
ihnen stehende Zentralgewalt beschränkt wären. ODa dieses Ziel nicht sofort zu erreichen 
ist, wird zunächst die Beseitigung des Krieges verlangt, weil gerade in dem Rechte der 
Kriegführung sich die Souveränität der Staaten am deutlichsten zeigt. Im Zusammen- 
hange damit wird der Abschluß eines Weltschiedsvertrags erstrebt, des Inhalts, daß 
alle Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft sich verpflichten, ihre etwaigen Streitig- 
keiten nicht mehr auf dem Wege der Selbsthilfe zum Austrage zu bringen, sondern durch 
ein ständiges, ein für allemal bestelltes Schiedsgericht entscheiden zu lassen. 
Diese internationale Strömung hat sich natürlich stark auf den beiden Friedenskon- 
ferenzen vom Jahre 1899 und 1907 geltend gemacht, auf denen über den Stillstand der 
Rüstungen bzw. Abrüstung als eine die Abschaffung des Krieges vorbereitende Maßregel 
und dann vor allem über die Erledigung internationaler Streitigkeiten durch schiedsgericht- 
liche Entscheidung und über Abschluß eines Weltschiedsvertrags lebhaft verhandelt wurde. 
Über das Ergebnis dieser Verhandlungen ist bereits früher berichtet worden; hier 
mag nur hervorgehoben werden, in welcher mitunter bedenklichen Weise diese Verhand- 
  
und Pazifismus. 
  
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