Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
100 Internationales Privatrecht. III. Buch. 
  
teiligen politischen Folgen dieser Praxis gezeigt. Die Reichsregierung hätte übrigens 
zufolge Art. 31 des Einführungsgesetzes gegen Benachteiligung deutscher Interessen 
durch die ausländische Gesetzgebung oder Prazis das Mittel der Retorsion anwenden 
können. Sie hat keine Veranlassung gefunden, davon Gebrauch zu machen. Das hängt 
allerdings wohl auch mit den nunmehr darzulegenden internationalen Entwickelungs- 
vorgängen wichtigsten Inhaltes zusammen, welche mehr als alles bisher Erwähnte dem 
internationalen Privatrecht unserer Zeit das Gepräge geben. 
IX. Inden Jahren 1902—1918 sind vom Deutschen Reich zwei Gruppen von Staats- 
verträgen abgeschlossen worden, von denen die erste mit dem Sammelnamen „Haager 
Abkommen über internationales Privat- und Prozeßrecht“ bezeichnet wird, 
die andere die Internationale Vereinheitlichung des Wechselrechts sowie die 
Vereinheitlichung des Seerechts zum Znhalte haben. 
Die erste Gruppe umfaßt sechs Konventionen: die drei 
am 12. Zuni 1902 abgeschlossenen Abkommen betr. Ehe- 
schließung, betr. Ehescheidung, betr. Bormundschaft über Minderjährige und 
die drei am 17. Juli 1905 abgeschlossenen Abkommen über die persönlichen und vermögens- 
rechtlichen Wirkungen der Ehe, über Entmündigung, über den Zivilprozeß. 
Die fünf zuerst genannten Abkommen kann man als staatsvertragliche Kodifi- 
kation der wichtigsten Materien des internationalen Familienrechts bezeichnen. 
Alle diese Abkommen sind ratifiziert worden von Frankreich, Italien, den Nieder- 
landen, Portugal, Rumänien, das letzte außerdem auch von Osterreich-Ungarn, 
Belgien, Dänemark, Spanien, Luxemburg, Norwegen, Rußland, Schweden, 
Schweiz. Die ersten drei Abkommen sind auch durch Ungarn, Belgien, Luzem- 
burg, Schweden, die Schweiz ratifiziert, das dritte außerdem auch durch Span ien, 
das vierte auch durch Schweden, das fünfte auch durch Schweden, Österreich und 
Ungarn. 
Ihrem Inhalte nach stehen die vier zuerst genannten Verträge zueinander in einem 
näheren inneren Verhältnis. Sie setzen für das Gebiet des Ehe- und Vormund- 
schaftsrechtes das Prinzip in Kraft, daß für jede Person das Recht des Staates, dessen 
Angehöriger sie ist, maßgebend ist. Das ist die auch in der neuen deutschen Gesetzgebung 
aufgestellte Grundregel. 
Das letzte Abkommen ist in gewissem Sinn noch wichtiger als die vorhergehenden. 
Es stellt ein System internationaler Rechtshilfe her. Die Zustellung von Urkunden 
von Land zu Land, das Ersuchen um Vornahme gerichtlicher Handlungen von 
den Gerichten eines Staates an diejenigen eines anderen sind praktisch, liberal und 
durchgreifend geregelt. Die berüchtigten Ausländervorschüsse für die Gerichtskosten sind 
aufgehoben. Armenrecht im Prozeß wird den Staatsangehörigen aller Vertragsstaaten 
ebenso wie den Inländern gewährt. Kurz, die Vertragsstaaten sind in eine Art Gerichts- 
gemeinschaft getreten, welche dem modernen Begriff internationaler Kultur- und 
Rechtsgemeinschaft der Staaten in bezug auf die Rechtshilfe und Rechtsverfolgung 
im Ausland eine bis dahin schmerzlich entbehrte Realität gibt. 
Haager Abkommen. 
  
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