Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
IV. Buch. Das Heerwesen. 19 
  
bes taktischen Willens in dieser Auflöfung gewahrt werden. Das sucht man durch eine 
streng durchgeführte Disziplin der Schützenlinien und dadurch zu erzielen, daß nicht 
nur die niederen Chargen, sondern auch die Mannschaften zu selbständigem Handeln 
im Sinne des Gefechtsgedankens und zum Verständnis der Gefechtsaufgaben erzogen 
werden. Zede moderne Taktik, die Erfolg versprechen soll, muß eine individualistische 
sein. Das geistig höherstehende Volk wird demnach stets eine gewisse Uberlegenheit 
gewinnen, und die Erziehung in der Schule bildet somit die Grundlage der späteren 
militärischen Ausbildung. Das sollte bei uns noch in höherem Maße berücksichtigt werden, 
als es heute geschieht. 
Den Sieg erwartet unser Reglement im Angriff wie in der Verteidigung 
von der Erkämpfung der Feuerüberlegenheit. Hier scheint mir eine gewisse 
Gefahr unserer Bestimmungen zu liegen, denn die Geschichte lehrt, daß Angriffssiege 
im allgemeinen trotz der Feuerüberlegenheit des Verteidigers erfochten worden 
sind. Bei der Gleichheit der Waffen ist es ja auch ganz natürlich, daß der gedeckt liegende 
und in Ruhe schießende Verteidiger bessere Schießresultate erzielen muß als der beweg- 
liche ungedeckte Angreifer. Angriffssiege werden errungen teils durch numerische Uber- 
legenheit, teils und vornehmlich aber durch moralisches Ubergewicht und entschlossenen 
Willen zum Siege trotz aller Verluste. Fordert man aber von der Arngriffs- 
infanterie die Erkämpfung der Feuerüberlegenheit, so kann dadurch die Energie des 
Angriffs gebrochen werden. 
Um so richtiger ist es, daß unsere Bestimmungen das größte Gewicht auf ein Zu- 
sammenwirken der Artillerie mit der Infanterie legen. 
Auch in dieser Waffe hat eine reiche taktische Entwickelung stattgefunden. Die neu- 
eingeführten Geschütze, Treibmittel, Geschosse und Richtmittel zwangen wiederholt zum 
Erlassen neuer Reglements und Schießvorschriften. Ferner war man bestrebt, die tak- 
tischen Formen nach Möcglichkeit zu vereinfachen, das Schießverfahren zu verbessern 
und die Zusammensetzung der Batterien möglichst zweckmäßig und gefechtsmäßig zu 
gestalten. Wichtig war in dieser Hinsicht besonders der Wegfall der zweiten Staffeln 
bei den Batterien und die Einführung leichter Munitionskolonnen, die der Truppe 
unmittelbar angegliedert wurden. A#uch sind neuerdings die reitenden Batterien zu 
4 Geschützen formiert worden. Besonderer Wert wurde in steigendem Maße auf die 
Ausnutzung des Schrapnellschusses und auf das indirekte Feuer gelegt; taktisch 
auf das Zusammenwirken mit der Infanterie. Das Artillerieduell als Selbst- 
zweck trat mehr und mehr in den Hintergrund; Hauptaufgabe wurde die Be- 
kämpfung der feindlichen Infanterie, wodurch der eigenen Infanterie das Vor- 
gehen nach Möglichkeit erleichtert werden soll. Alle dementsprechenden Verbesserungen 
und Anderungen kommen allmählich in den Reglements von 1889, 1892, 1899 und 1907, 
welch letzteres 1911 infolge mehrfacher Neueinführungen verbessert wurde, sowie in ver- 
schiedenen Schießvorschriften zum Ausdruck. Solche wurden 1890, 1899 und 1907 er- 
lassen; letztere wurde 1911 teilweise neu bearbeitet. 
Die Fußartillerie hat eine analoge taktische Entwickelung durchgemacht, und 
1908 das heute noch gültige Reglement erhalten. Als schwere Artillerie des Feld- 
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