Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
20 Das Heerwesen. IV. Buch. 
  
heeres ist es ihre wesentlichste Aufgabe geworden, im Verein mit der Feldartillerie 
die feindliche Artillerie niederzukämpfen und den Einbruch der Infanterie 
in die feindliche Stellung vorzubereiten. Die Beweglichkeit, die sie allmählich 
erlangt hat, befähigt sie, dieser Aufgabe gerecht zu werden. 
Auch die Ausbildung der Artillerie hat erhebliche Fortschritte gemacht. Der 
erste Schritt hierzu war die Trennung der Schießschule in eine Feld- und Fuhartillerie- 
schießschule und deren allmähliche Erweiterung. Hier werden jetzt alle jungen und alle zu 
Batterieführern geeigneten Offiziere ausgebildet; ferner sind Lehrkurse für Offiziere 
des Beurlaubtenstandes eingerichtet. Auch der vielfache Wechsel der Schießplätze fördert 
die Ausbildung, und endlich finden seit 1895 bei der Feldartillerie Geländeübungen 
statt als Einleitung für die Manöver. 
A#m schwersten ist es der Kavallerie geworden, sich von den alten ruhmreichen 
Traditionen loszureißen und den Anforderungen des modernen Gefechts anzupassen. 
Die Attacke ist nicht mehr ihre Hauptaufgabe; der Schwerpunkt liegt heute 
auf der operativen Beweglichkeit; im Gefecht aber ist der Kampf zu Fuß völlig 
gleichberechtigt mit dem eigentlichen Reiterkampf. Das liegt an der Entwickelung 
des heutigen Waffenwesens. Ob die für den Kriegsfall vorgesehenen Kavallerie-- 
dioisionen zu 24 Eskadrons und in ihrem Nahmen die Brigaden stark genug sind, 
steht dahin. Dagegen ist ihre Leistungsfähigkeit durch Zuteilung von Pionieren, reitender 
Artillerie und Maschinengewehren, sowie durch die Ausrüstung mit dem vorzüglichen 
Karabiner 1898 wesentlich erhöht. Lange hat die Waffe unter der Dreitreffentaktik, 
dem mißglückten Versuch, die mißverstandene friederizianische Taktik modernen Ver- 
Hältnissen anzupassen, gelitten und sich taktisch in einem toten Formalismus bewegt. 
Das Reglement von 1895 brachte zwar verschiedene zweckmäßige Vereinfachungen aber 
keine grundsätzliche taktische Anderung. Auch das Gefecht zu Fuß wurde noch nicht 
genügend betont, obgleich eine Reihe von Schießvorschriften den Schießdienst wesentlich 
hob. Erst im Lahre 1909 gelang es, die Treffentaktik für den Reiterkampf zu be- 
seitigen, durch flügelweise Verwendung der Kommandoeinheiten zu ersetzen und ein 
modernes Reglement zu schaffen, dem freilich noch mancherlei Schwächen anhaften. 
Auch die Ausbildung der Kavallerie leidet unter dem Umstande, daß größere UÜbungen 
selbständiger Kavalleriekörper nicht jährlich für die ganze Reiterei stattfinden, während 
doch im Kriege gerade diese Tätigkeit fast ausschließlich gefordert wird. Bei dem 
strebenden Geiste, der die Waffe beseelt, ist sie heute bemüht, den Formalismus noch 
weiter abzustreifen und das operative Element in der Führung vorwalten zu lassen, 
ohne Rücksicht auf Tradition und persönliche Neigung. Material und Auerüstung 
sind vorzüglich, und die Reitausbildung steht auf hoher Stuse. Sie wird auf 
dem Militärreitinstitut in Hannover und der Reitschule in Paderborn mit 
Erfolg gepflegt. Eine weitere Reitschule in Soltau soll 1913 gebildet werden. Die 
neue Reitinstruktion von 1912 entspricht den weitestgehenden Anforderungen. 
Auch bei den anderen Hilfswaffen hat eine nach mo- 
elddienstordnung. 
s 1D 8. dernen Gesichtspunkten geleitete Entwickelung stattgefunden. 
  
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