Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

Seemacht und Kriegsflotte 
Von Wizeadmiral a. D. Freiherr v. Maltzahn 
Einleitung und Vorgeschichte 
Handel und Schiffahrt, die einen Staat über das Welt- 
meer hin mit den Einkaufs- und Absatzmärkten seiner IZn- 
dustrie verbinden, eigene Kolonien, im überseeischen Ausland angelegtes Kapital, ge- 
winnbringende Tätigkeit dort wohnender Staatsangehöriger, nicht zum wenigsten auch 
das politische Ansehen, das dem Staate aus energischer Vertretung dieser überseeischen 
Beziehungen erwächst, schaffen ihm eine Seemachtsstellung, falls sie von einer 
genügend starken Flotte beschützt werden. So wird im militärisch-politischen 
Sinne die Kriegsflotte zum Träger und Repräsentanten der Seemacht eines Staates. 
Ohne sie würden alle Seeinteressen ein Element der Schwäche bilden. Für einen Kon- 
tinentalstaat wie das Deutsche Reich ist natürlich die vom Heere beschützte kontinentale 
Machtstellung die Vorbedingung zur Schaffung einer Seemachtstellung gewesen, sie 
bleibt auch ferner ihre unentbehrliche Grundlage. Sie wirkt in politischem Sinne mit 
zur Wahrnehmung der überseeischen Interessen; wo es sich für die Politik aber darum 
handelt, über die rein diplomatischen Interventionsmittel hinaus auf Staaten einzu- 
wirken, von denen die See uns trennt, kann sie die Flotte nicht entbehren. Denn das 
Wesen des Staates ist Macht, und, wo er seine Stellung andern Staaten gegenüber 
wahren soll, Macht im militärischen Sinne. So tritt die Kriegsflotte aus dem Gesamt- 
bilde der Seemacht hervor als staatliche Notwendigkeit; sie hat ihre Daseinsberechtigung 
aber nur in den friedlichen Elementen der Seemacht. 
Die richtige Erkenntnis für diesen Begriff der Seemacht hat den Deutschen gefehlt, 
oder sie war ihnen verloren gegangen. Auch die Wiederaufrichtung des Reiches war so 
kontinentale, rein militärische Wege gewandelt, daß wohl der Stolz auf das größere 
Deutschland, das die überseeischen Interessen mit umfaßte, vorhanden war, aber es ist 
doch ein Verdienst der Regierung des dritten Kaisers — im eigentlichen Sinne des Kaisers 
selbst —, daß sie, auf den Errungenschaften der großen Zeit der Reichsgründung weiter- 
bauend, der richtigen Erkenntnis für die Weltmachtstellung Deutschlands in diesem 
Sinne im Innern des Reiches Bahn gebrochen und sie dem Auslande aufgezwungen hat. 
So wird auch einst die Geschichte urteilen, wenn sie von der Regierungszeit Wilhelms II. 
spricht. Diese Erkenntnis von den Seeinteressen und von der Weltmachtstellung des 
Reiches ist dann zur Grundlage geworden für den Aufbau der deutschen Kriegsflotte. 
Begriffserklärung. 
  
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