I. Buch. Auswärtige Politik. 37
wir rechnen und uns selbst als denjenigen Gegner ansehen, gegen den sich Frankreich in
erster Linie wenden würde, wenn es glaubte, einen Angriff auf Deutschland siegreich
durchführen zu können. Die französische Revanchepolitik wird getragen von dem
unbeirrbaren Glauben der Franzosen an die Unverwüstlichkeit der Lebenskraft Frank-
reichs. Dieser Glaube fußt auf allen Erfahrungen der französischen Geschichte. Kein Volk
hat die Folgen nationalen Mißgeschicks stets so schnell verwunden, wie das französische,
keines nach schweren Enttäuschungen und scheinbar vernichtenden Niederlagen so leicht
Spannkraft, Selbstvertrauen und Tatenfreudigkeit wiedergewonnen. Mehr als einmal
schien Frankreich durch äußere Feinde endgültig überwunden, durch innere Wirrnisse
so zermürbt, daß Europa glaubte, Frankreich habe aufgehört, gefährlich zu sein.
Aber immer wieder stand in kürzester Zeit die französische Nation in der alten oder
in vermehrter Kraft vor Europa und konnte aufs neue den Kampf um die europäische
Suprematie aufnehmen, die Machtverhältnisse Europas aufs neue in Frage stellen.
Der Auf- und Niedergang dieses Volkes hat die Staaten Europas immer aufs neue
mit Staunenerfüllt. Der allmähliche Niedergang von der stolzen Höhe, auf die Ludwig XIV.
Frankreich gehoben hatte, schien zum Zerfall des französischen Staates zu führen
durch die große Revolution, die in kurzer Folge den Bürgerkrieg, die Auflösung der
Armee, die Vernichtung der alten wirtschaftlichen Blüte und den Staatsbankerott nach
sich zog. Zehn Jahre nach dem Ausbruch der Revolution waren die Heere der franzö-
sischen Kepublik Herren über Italien, die Niederlande und alles Land links des Rheins
und standen siegreich im Herzen Deutschlands, und wieder nach zehn Zahren strahlte
das erste Kaiserreich in seinem höchsten Glanze, und Napoleon schien dem Ziele der Herr-
schaft über den gesamten Kontinent nahe. Es folgten die Katastrophen von Leipzig und
Waterloo, die volle Besiegung Frankreichs, zweimal die Einnahme der französischen Haupt-
stadt. In mehr als zwanzig Jahren ununterbrochener Kriege hatte die französische Nation
ihre wirtschaftliche und phoysische Kraft bis auf die Reige verbraucht, und doch konnte
sich Frankreich unter dem zweiten Kaiserreich wiederum an die erste Stelle erheben.
Die Niederlage von 1870 traf in ihren Folgen Frankreich schwerer als je eine zuvor.
Aber die Kraft zu neuem Aufstieg des wunderbar elastischen Volks hat sie nicht gebrochen.
Was vor mehr als einem halben Jahrhundert in seinem klassischen Werk „L'Ancien Régime
et la Révolution“ Alexis de Tocqueville über die französische Nation schreibt, trifft in
mancher Hinsicht noch heute zu: „Quand je consideère cette nation en elle-méme, je la
trouve plus extraordinaire quaucun des événements de son histoire. En a-t- jamais
paru sur la terre une seule dui füt si remplie de contrastes et si extréme dans chacun
de ses actes, plus Cconduite par des sensations moins par des principes; faisant ainsi
toujours plus mal odu mieux du'on ne s'y attendait, tantöt au-desscus du niveau com-
mun de Thumanité, tantöt fort au-dessus; un peuple tellement inaltérable dans ses
principaux instincts du’on le reconnaft encore dans des portraits qui ont été faits de
lui 1 y7 a deux ou trois mille ans, et en méme temps tellement mobile dans ses
pensées journalières et dans ses godts duil finit par se devenir un spectacle inat-
tendu à lui-méme, et demeure souvent aussi surpris que les étrangers à la vue de
ce du’il vient de faire; le plus casanier et le plus routinier de tous quand on Taban-
37