Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
IV. Buch. Seemacht und Kriegsflotte. ’ 41 
  
Seemacht noch nicht Rechnung, stellt neben die größeren Seemächten gegenüber nur 
die Bedeutung einer „Ausfallsflotte“ tragende Hochseeflotte eine Küstenflotte und mißt 
überhaupt dem Küstenschutz und daneben dem Schutz des Handels besondere Bedeutung 
bei. Zwischen ihm und dem definitiven Flottengesetz liegt die Besitzergreifung von Kiau- 
tschau. Ein weiteres schnelles Wachstum unserer gesamten überseeischen Beziehungen 
und damit die Notwendigkeit vermehrten Schutzes entstand, sowie die Möglichkeit, auch 
größeren, ja dem seemächtigsten Gegner uns zum Kampf stellen zu müssen. Dement- 
sprechend rückt das Flottengesetz von 1900 noch weiter von der Küste ab. Es läßt die 
Küstenpanzerschiffe ganz fallen und will sie nur vorläufig auf die Zahl der Schlacht- 
schiffe anrechnen. Es forderte statt bisher 17 verwendungsbereiter Linienschiffe für die 
beimische Schlachtflotte deren 34, gegliedert in vier Geschwader, von denen zwei „aktiv“, 
b. h. permanent in Dienst, zwei in Reserve gehalten werden sollten. Dazu die nötigen 
großen und lleinen Kreuzer für die heimische Schlachtflotte und für den Auslandsdienst. 
Die Torpedobootsdivisionen waren in das Gesetz nicht eingeschlossen, sondern wurden nur 
summarisch angeführt. 
Das Gesetz brachte also in feste Formen, was schon seit Jahren als notwendig erkannt 
war. Es schob die Organisation der Flotte näher an den Krieg heran, wie es der Verletz= 
lichkeit der Seeinteressen aller großen Völker und der Natur des Seekrieges entspricht, 
der sofort mit dem Kriegsbeginn die Grenze vorzuschieben bemüht ist bis an die Küsfte 
des Feindes. Denn nur hierdurch kann er im Kriege von vornherein den nationalen Be- 
sitzttand auf der im Frieden allen Staaten gemeinsamen See sich bewahren. Vermag 
eine Flotte dies nicht, weil sie zu schwach dazu ist, so muß sie wenigstens dem Feinde so- 
weit entgegengehen, wie es dem Verhältnis der Kräfte entspricht. Aber auch das Material 
an sich verlangt solche erhöhte Kriegsbereitschaft. Das moderne Kriegsschiff ist ein Appa- 
rat, den auch die sorgfältigste Konservierung in den Werften nicht in vollständig ge- 
brauchsfähigem Zustand halten kann. Nur der Gebrauch selbst kann es. 
Die in ihrem Hauptteil stets kriegsbereite Schlachtflotte steht also im Mittelpunkt 
des Gesetzes. Der Kültenschutz tritt hinter sie zurück, und auch der Schutz des Seehandels 
und der Kolonien soll nicht durch Verteilung der Kampfmittel über die ganze Welt er- 
folgen, sondern auch er ruht — soweit europäische Nationen als Gegner in Betracht 
kommen — auf der heimischen Schlachtflotte. Denn, soheißt es in den Motiven, „Deutsch- 
land muß eine so starke Schlachtflotte haben, daß ein Krieg auch für den see- 
mächtigsten Gegner mit derartigen Gefahren verbunden ist, daß seine ei- 
gene Machtstellung in Frage gestellt wird.“ 
Das Flottengesetz nennt das Schlachtschiff ein Linienschiff und stellt es bamit auf 
die taktische Grundlage des artilleristischen Formationskampfes, deren Entstehung wir 
kennen gelernt haben. Aber auch für die anderen Schiffstopen in der Dreiteilung: 
Schlachtschiff, Kreuzer, Torpedoboot, schafft es feste Normen. Soll in der heimischen 
Schlachtflotte der Hauptsache nach das verneint sein, was Deutschland zur Wahrung 
seiner Seeinteressen in der Welt braucht, so müssen alle Typen so beschaffen sein, daß sie 
nicht nur in heimischen Gewässern, sondern überall in der Welt gebraucht werden können. 
So kennt das Gesetz keine allein auf Schnelligkeit und Aktionsradius aufgebauten Handels- 
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