I. Buch. Auswärtige Politik. 39
die unsere deutschen Wirtschaftsinteressen wie unser nationales Ansehen in gleicher
Weise zu verletzen drohte. Der zu Madrid im Zahre 1880 abgeschlossene Marokkover-
trag hatte die Ausübung des Schutzrechtes der europäischen Großmächte über Ma-
roklo geregelt. Er war abgeschlossen worden auf Grund der Anerkennung der Souve-
ränität Marokkos. Auf eben dieser Grundlage ging Deutschland 1890 einen Han-
delsvertrag mit Marokko ein. Eine Anderung der Madrider Abmachungen war nur
statthaft unter Zustimmung der Signatarmächte, der europäischen Großmächte mit
Ausnahme Rußlands, der Vereinigten Staaten, der skandinavischen Staaten, Hollands,
Belgiens und Portugals. Gewiß hatte Frankreich, das mit seinem eigenen Kolonial-
besitz Marokko benachbart ist, ein besonderes Interesse an der Entwicklung der marokka-
nischen Angelegenheiten. Mit dieser Tatsache ist auf deutscher Seite stets gerechnet
worden. Auf der Basis der Madrider Abmachungen wäre gegen eine Berücksichtigung
der besonderen französischen und ebenso der spanischen Interessen nichts einzuwenden
gewesen. Aber die französischen Wünsche gingen weiter. Frankreich mischte sich immer
rücksichtsloser in die marokkanischen Verhältnisse ein. Es hoffte in aller Stille unter
Ignorierung des Madrider Vertrags wie unter Nichtachtung der wirtschaftlichen Inter-
essen anderer Staaten, insbesondere der deutschen, einen neuen großen und wertvollen
Kolonialbesitz erwerben zu können. In Verfolgung dieser Politik stützte sich Frankreich
auf England, in der Annahme, daß die englische Unterstützung und Billigung seiner
Marokkopolitik ausreichend sei für die Erreichung seiner Ziele. Am 8. April 1904 kam
zwischen England und Frankreich ein Sondervertrag zustande, in dem Frankreich die
volle Herrschaft Englands in Agypten anerkannte, England seine Billigung des fran-
zösischen Vorgehens in Marokko aussprach. Der Sondervertrag schob das internationale
Abkommen von 1880 ebenso ungeniert zur Seite, wie den deutsch-marokkanischen Handels-
vertrag. Als eines der ersten greifbaren Resultate der mittelbar gegen Deutschland
gerichteten französisch-englischen Entente trug der Vertrag eine offenbare Spitze gegen
Deutschland. Die Entente-Mächte verfügten selbstherrlich über ein großes und wichtiges
koloniales Interessengebiet, ohne das Deutsche Reich auch nur der Beachtung zu würdigen.
Es war ein deutlicher Versuch, die weltpolitischen Entscheidungen für die Westmächte
allein in Anspruch zu nehmen. Die französische Politik zögerte nicht, sofort nach dem
Abschluß des englisch-französischen Abkommens die Konsequenzen zu ziehen, als seien
die Madrider Signatarmächte überhaupt nicht auf der Welt. Frankreich ging an die
„Tunifikation" von Marokko. Der französische Vertreter in Marokko, St. Kéné-Taillandier
suchte sich die Mitregentschaft über Marokko zu sichern. Durch die Umgestaltung der
polizeilichen Einrichtungen, die Gründung einer Staatsbank unter französischer Leitung,
Vergebung der öffentlichen Arbeiten und Lieferungen an französische Firmen sollte
das wirtschaftliche und staatliche Leben in Marokko so weit unter französischen Einfluß
gebracht werden, daß die schließliche Einverleibung Marokkos in den französischen Kolonial-
besitz mur eine Formsache gewesen wäre. Dem damaligen französischen Minister des
Auswärtigen, Delcassé, einem ebenso begabten wie tatkräftigen Staatsmann, der aber,
wo Deutschland in Frage kam, sich zu sehr von Gefühlsmomenten bestimmen ließ, schwebte
der Gedanke vor, uns in Maroklo vor ein Fait accompli zu stellen. Er wußte, daß er da-
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