40 Auswärtige Politik. I. Buch.
mit unserem Ansehen in der Welt einen empfindlichen Stoß versetzen würde. Wir hatten
in Marokko bedeutende und zukunftsreiche wirtschaftliche Interessen, die durch das fran-
zösische Vorgehen schwer geschädigt wurden. Darüber binaus standen unsere Würde
und unsere neuerrungene weltpolitische Machtstellung auf dem Spiel. Die Ignorierung
der Madrider Signatarmächte bei Abschluß des französisch-englischen Marokko-Abkom-
mens bedeutete in specie eine Brüskierung des Deutschen Reichs. Mit England war
Frankreich vertraglich im reinen, mit Spanien waren geheime Unterhandlungen im
Gange, Rußland war nicht Signatarmacht, Italien ging im Mittelmeer seine eigenen
Wege, den Bereinigten Staaten lagen die marokkanischen Angelegenheiten fern, ein
Widerstand der kleineren Staaten Europas war ernstlich nicht zu besorgen. So waren
nur Österreich und vor allen Dingen Deutschland offenbar beiseite geschoben. Wir standen
vor einer bedeutungsvollen Wahl. Sollten wir uns bei einer wichtigen internationalen
Entscheidung ausschalten, uns als QOuantité négligeable behandeln lassen? Oder sollten
wir die Berücksichtigung unserer Interessen und die Beachtung unseres Willens fordern?
Oie erstere Entscheidung wäre die bequemere gewesen, für die zweite sprachen nicht nur
Ehrgefühl und Stolz, sondern auch unser wohlverstandenes Interesse. Ließen wir uns
einmal ungestraft auf die Füße treten, so wäre dem ersten Versuch, uns schlecht zu be-
handeln, bald der zweite und dritte gefolgt.
Am 3. Juli 1900 hatte Kaiser Wilhelm II. das programmatische Wort gesprochen:
„Ich bin nicht der Meinung, daß unser deutsches Volk vor 30 Jahren unter der Führung
seiner Fürsten gesiegt und geblutet hat, um sich bei großen auswärtigen Entscheidungen
beiseite schieben zu lassen. Geschähe das, so wäre es ein für allemal mit der Weltmacht-
stellung des deutschen Volkes vorbei, und ich bin nicht gewillt, es dazu kommen zu lassen.“
Die französische Marokkopolitik war ein unverhüllter Versuch, Deutschland bei einer
großen auswärtigen Entscheidung beiseite zu schieben, der Versuch, die Machtverhält-
nisse in Europa einer Korrektur zugunsten Frankreichs zu unterziehen. Ein Präzedenz-
fall wäre geschaffen worden, der notwendig zu Wiederholungen hätte reizen müssen.
Darauf durften wir es nicht ankommen lassen. In diesem Sinne wurde die Marokko-
Frage für uns eine nationale Frage. Unserer Marokko-Politik waren die Wege gewiesen.
Am 31. März 1905 legte Seine Majestät der Kaiser auf meinen Rat in Tanger an,
wo er mit unzweideutigen Worten für die Unabhängigkeit und Souveränität Marokkos
eintrat. Damit war die Forderung Deutschlands nach Mitentscheidung der marokkanischen
Angelegenheiten vor der Welt angemeldet. Es war erklärt, daß Deutschland an dem auf
der Grundlage der Souveränität Marokkos abgeschlossenen internationalen Vertrag von
1880 festhielt und nicht geneigt war, ungefragt die durch das französisch-englische Marokko-
Abkommen und das französische Borgehen in Marokko geschaffene neue Lage anzu-
erkennen. Unser Ziel war, an Stelle der einseitig französisch-englischen Regelung
der Marokko-Frage eine internationale durch die Madrider Signatarmächte zu setzen.
Wir mußten auch verhindern, daß eine internationale Konferenz der französischen
Marokko-Politik einfach ihr Plazet gab. Beides ist durch das Zustandekommen und
die Beschlüsse der Algesiraskonferenz erreicht worden. Frankreich setzte dem Konferenz-
plan heftigen Widerstand entgegen. Eine Zeitlang schien es, als wolle Herr
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