Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
50 Auswärtige Politik. I. Buch. 
  
gesprochensten Agrariern unter den Konservativen bis zum äußersten Flügel der bürger- 
lichen Demokratie gibt es in bezug auf unsere deutsche Flottenpolitik prinzipielle Gegen- 
sätze nicht mehr. Den grundlegenden großen Flottenvorlagen hatte sich der Freisinn 
bekanntlich versagt, er repräsentierte damals recht eigentlich den Widerstand der alten 
gegen die neue Zeit. Es war im Jahre 1900, als nach einer langen und bewegten Sitzung 
der Budgetkommission der Führer der Volkspartei, Eugen Richter, an mich herantrat und 
mir unter vier Augen sagte: „Sie werden es durchsetzen, Sie werden die Mehrheit für Zhre 
Flottennovelle bekommen. Ich hätte es nicht gedacht.“ Zn der Unterredung, die folgte, 
bemühte ich mich, dem in mancher Hinsicht hervorragenden Manne darzulegen, warum mir 
seine ablehnende Haltung gerade gegenüber der Flottenvorlage nicht verständlich wäre, denn 
deutsche Seegeltung sei während Zahrzehnten von der deutschen Demokratie gefordert wor- 
den, Herwegh habe der deutschen Flotte das Wiegenlied gesungen, und die ersten deutschen 
Kriegsschiffe seien im Zahr 1848 erbaut worden. Ich wies auch auf alle die Gründe hin, 
aus denen wir unsere Industrie und unseren Handel auf dem Weltmeere schützen müßten. 
Kichter hörte aufmerksam zu und meinte schließlich: „Sie mögen recht haben. Ich bin aber 
zu alt, ich kann die Wendung nicht mehr mitmachen.“ Oie von Eugen Richter prophezeite 
Wendung sollte bald eintreten. Die ablehnende Haltung der Volkspartei war weniger in 
Prinzipien, als in der allgemeinen parteipolitischen Lage begründet. Zm Zuge der 
Parteipolitik war sie zu überwinden und ist in der Blockzeit überwunden worden. 
Ein ergreifendes und unmittelbares Zeugnis für die Erkenntnis der aufdämmernden 
neuen Zeit hat der große siegreiche Antipode des Fortschrittführers, Fürst Bismarck, 
abgelegt. Wenige Jahre nach des Fürsten Rücktritt schlug ihm der ausgezeichnete General- 
direktor Ballin vor, sich einmal den Hamburger Hafen anzusehen, den Bismarck trotz 
der Nähe von Friedrichsruh seit langer Zeit nicht mehr besucht hatte. Herr Ballin führte 
den achtzigjährigen Fürsten nach einer Nundfahrt im Hafen auf einen der neuen trans- 
atlantischen Dampfer der Hamburg-Amerika-Linie. Fürst Bismarck hatte noch nie ein 
Schiff von solchen Dimensionen gesehen. Er blieb beim Betreten des Riesendampfers 
stehen, sah lange auf das Schiff, die vielen umherliegenden Dampfer, die Docks und Riesen- 
kräne, das mächtige Hafenbild und sagte endlich: „Sie sehen mich ergriffen und bewegt. 
Za, das ist eine neue Zeit, — eine ganz neue Welt.“ Der gewaltige Reichsgründer, 
der unsere nationale Sehnsucht, der Deutschlands kontinentalpolitische Aufgabe erfüllt 
hat, erkannte an seinem Lebensabend mit dem nie befangenen Blick des Genius die Zu- 
kunft, die neuen weltpolitischen Aufgaben des Deutschen Reichs. 
 
	        
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