„Oie deutsche Aation ist trotz ihrer alten Geschichte das jüngste unter den großen
Völkern Westeuropas. Zweimal ward ihr ein Zeitalter der Zugend beschieden, zwei-
mal der Kampf um die Grundlage staatlicher Macht und freier Gesittung. Sie schuf
vor einem Zahrtausend das stolzeste Königtum der Germanen und mußte acht Jahr-
hunderte nachher den Bau ihres Staates auf völlig verändertem Boden von neuem
beginnen, um erst in unseren Tagen als geeinte Macht wieder einzutreten in die Reihe
der Völker.“
Diese Worte, mit denen Treitschke seine „Deutsche Geschichte“ einleitet, enthalten
nicht nur tiefe geschichtliche Erkenntnis, sie haben auch sehr modernen politischen Sinn.
Deutschland ist die jüngste unter den großen Mächten Europas, der Homo novus, der,
in jüngster Zeit emporgekommen, sich durch überragendes eigenes Können in den Kreis
der alten Bölkerfamilien gedrängt hat. Als ungebetener und lästiger Eindringling wurde
die neue Großmacht angesehen, die Furcht gebietend nach drei glorreichen Kriegen
in die europäische Staatengesellschaft eintrat und das Ihre forderte von der reichbesetzten
Tafel der Welt. Jahrhunderte hindurch hatte Europa nicht an die Möglichkeit einer
national-staatlichen Einigung der deutschen Ländermasse geglaubt. Zedenfalls hatten
die europäisschen Mächte ihr Möglichstes getan, um eine solche zu verhindern. Insbeson--
dere war die französische Politik von Richelieu bis auf Napoleon III. in der richtigen
Erkenntnis, daß das Ubergewicht Frankreichs, la Préponderance Iégitime de la France,
in erster Linie auf der staatlichen Zerrissenheit Deutschlands beruhe, bestrebt, diese Zer-
rissenheit zu erhalten und zu vertiefen. Aber auch die anderen Mächte wollten die Einigung
Deutschlands nicht. Zn dieser Beziehung dachte Kaiser Nikolaus wie Lord Palmerston,
Metternich wie Thiers. Es ist wohl der stärkste Beweis für das wundervolle Zusammen-
wirken der abgeklärten Weisheit unseres alten Kaisers mit dem Genie des Fürsten Bis-
marck, daß sie die Einigung Deutschlands durchgesetzt haben, nicht nur gegen alle Schwierig-
keiten, die ihr die innerdeutschen Verhältnisse, uralte Rivalitäten und Rankünen, alle
Sünden unserer Vergangenheit und alle Eigenheiten unseres politischen Charakters
entgegentürmten, sondern auch gegen den offenen oder versteckten Widerstand und
gegen die Unlust von ganz Europa.
Auf einmal war das ODeutsche Reich da. Schneller, als man gefürchtet, stärker als
irgend jemand geahnt hatte. Keine der anderen Großmächte hatte die staatliche Wieder--
geburt Deutschlands gewüncscht, jede hätte sie, so wie sie erfolgte, lieber verhindert. Kein
Wunder, daß die neue Großmacht nicht mit Freude begrüßt, sondern als unbequem
empfunden wurde. Auch eine sehr zurückhaltende und friedliebende Politik konnte an
diesem ersten Urteil wenig ändern. Man sah in der lange verhinderten, oft gefürchteten,
endlich von den deutschen Waffen und einer unvergleichlichen Staatskunst ertrotzten
staatlichen Einigung der Mitte des europäischen Festlandes an sich etwas wie eine Drohung
und jedenfalls eine Störung.