76 Innere Politik. 1. Buch.
die Konfession zusammengehalten wird, ist und bleibt das Zentrum, mögen Kölner
und Berliner Richtung noch so spitzfindig über den Begriff einer konfessionellen Partei
streiten. Das Zentrum ist die Vertretung der konfessionellen Minderheit. Es hat als
solche seine Berechtigung, darf aber keine politische Trumpfstellung beanspruchen. Ge-
wiß neigt jede Partei, die sich durch die Mehrheitsverhältnisse wie durch eigene Stärke
in hervorragender parlamentarischer Machtstellung sieht, dazu, ihre Macht zu mißbrauchen.
So ging es den Freisinnigen während der Konfliktsjahre, den Nationalliberalen in der
ersten Hälfte der siebziger Zahre, den Konservativen im preußischen Abgeordnetenhause,
als sie die wohlbegründeten und weitausschauenden Kanalpläne durchkreuzten, so endlich
auch dem Zentrum. Alle meine Amtsvorgänger sind in die Lage versetzt worden, sich
der Machtansprüche des Zentrums erwehren zu müssen. Nicht wenige der inmer-
politischen Konflikte der letzten Jahrzehnte sind aus solcher Notwehr der Regierung
hervorgegangen, der Konflikt von 1887 wie der von 1893, und endlich auch der
Zusammenstoß von 1906.
Für eine Partei, die sich in kaum zu erschütternder Position befindet wie das Zentrum,
ist die Versuchung, blanke Machtpolitik zu treiben, natürlich sehr groß. Sie ist doppelt
verführerisch, wenn das Zentrum in der Lage ist, mit der Sozialdemokratie die Mehrheit
zu bilden und mit ihrer Hilfe das Zustandekommen eines jeden beliebigen Gesetzes zu
verhindern. Eine Mehrheit von Zentrum und Sozialdemokratie, die nationalen For-
derungen Widerstand leistet, ist nicht nur ein Schade, sondern eine schwere Gefahr für
unser nationales Leben. Vor 1906 hat sich das Zentrum wiederholt verleiten lassen,
sich die grundsätzlich ablehnende Haltung der Sozialdemokratie gegenüber nationalen
Forderungen zunutze zu machen, wenn es mit der Sozialdemokratie die Mehrheit ge-
winnen konnte und es seiner Machtpolitik angemessen fand, der Regierung gerade durch
Ablehung nationaler Forderungen unbequem zu werden. Ebenso ist vor dem reinigen-
den Gewitter von 1906 mehr als einmal der Fall eingetreten, daß das Zentrum für die
Zustimmung zu nationalen Forderungen nur schwer oder gar nicht erfüllbare Bedin-
gungen stellte im Bewußtsein, daß ohne seine Mithilfe die Bildung einer nationalen
Mehrheit nicht möglich war. Seit dem Unterliegen des Kartells bei den Februarwahlen
von 1890 bis zu den Blockwahlen von 1907, nach denen sich das Zentrum keiner Militär-,
Marine- oder Kolonialforderung mehr widersetzte, hat die Regierung ununterbrochen
unter dem Schatten des drohenden Zusammenschlusses des Zentrums und der Sozial-
demokratie zu einer oppositionellen Mehrheit gestanden. Gewiß hat das Zentrum
während der zwischen Kartell und Block liegenden 17 Jahre dankenswert mitgearbeitet
an nationalen Aufgaben, so vor allem an den Flottengesetzen, so bei den Zolltarifgesetzen,
so in hervorragender Weise bei der Fortführung der Sozialpolitik. Die Vorgänge auf
dem Felde der Kolonialpolitik im Winter 1906 bewiesen aber doch, daß das Zentrum
nach wie vor in der Ablehnung nationaler Forderungen mit Hilfe der Sozialdemokratie
ein erlaubtes und willkommenes Mittel zur Durchführung seiner Machtpolitik sah.
Die Aufgabe von 1907. Der Konflikt, den das Zentrum Seite an Seite mit der
Sozialbemokratie, Polen und Elsässern heraufbeschwor,
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