Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
100 Allgemeine Naturwissenschaft; Botanik; Abstammungelehre. X. Buch. 
  
der unbefangenen Betrachtung das Gefühl auf, daß eine restlose phosiko-chemische 
Erklärung noch für keinen einzigen der wichtigeren Lebensvorgänge, ja nur hier und da 
für eine der einfacheren Erscheinungen am lebenden Organismus gelungen sei, und daß 
binter all den phosiko-chemischen Tatsachen, die durch die physiologische Analypse enträtselt 
waren, sich noch ein unbekannter Faktor verberge, ein &, dem mit Hebeln und Schrauben 
und chemischen Reagenzien bis dahin nicht beizukommen war. So gewann das Problem 
des Lebens in den letzten Zahrzehnten wieder eine neue Gestalt, und als einen Gewinn 
möchte ich buchen, daß man von einer ausschließlich vitalistischen oder mechanistischen 
Dogmatik zur Erklärung des Lebens heute abgerückt ist und die Aufgabe als solche, d. h. 
als Problem, kllarer herausgestellt hat, um ihre Bearbeitung bzw. Lösung der Zukunft 
anheimzugeben oder von ihr zu erwarten. 
Phnpsikalische und chemische Vorgänge sind die einfachsten, welche wir kennen; ihnen 
gegenüber sind die Lebenserscheinungen außerordentlich kompliziert; sie sind Vorgänge 
einer höheren Ordnung. Gewiß ist es richtig, stets den Versuch zu machen, das „Höhere“, 
in diesem Falle zugleich das Verwickeltere, in einfachere Bestandteile aufzulösen. Darum 
hat schon Kant in seiner Naturgeschichte des Himmels den rechten Weg gewiesen und ein- 
geschlagen, wie das übrigens auch seine großen Vorgänger Kepler und Newton getan 
haben, wenn er versuchte, das Sostem der Himmelskörper seiner Entstehung nach mecha- 
nisch zu erklären. Kant gebührt aber auch das Verdienst, die Frage gestellt zu haben, ob 
die mechanische Erklärung nicht auch auf die Tiere und die Pflanzen anzuwenden sei; 
und wenn er die Lösung dieser Aufgabe als aussichtslos ansieht, so hat er doch den erften 
Schritt zur phosiologischen Forschungsmethode der Gegenwart getan, inbem er daran 
dachte, den Versuch einer phosiko-chemischen Analpse der Lebensvorgänge zu machen und 
so weit zu treiben, wie es möglich ist. Wenn Kant an der mechanischen Erklärung des 
Aufbaus eines Grashalms oder einer Raupe verzweifelte, werden wir ihm dies um so 
weniger verdenken, als derjenige Biologe der Gegenwart, dem wir wie wenigen das 
tiefere Eintreiben des mechanistischen Keils in die Probleme des Lebens verdanken, als 
M. Rubner am Schluß der Harlegung seiner Forschungsergebnisse vor vier Zahren zu 
folgendem Bekenntnis gelangte: „Es ist unverständlich, wie man in der Neuzeit immer 
wieder das Bestreben betont, das Lebende ausschließlich der Erscheinungsweise des Leb- 
losen unterzuordnen und in dessen Formen zu zwängen. Wozu ist es notwendig, in in- 
finitum nach Parallelen aus dem Gebiete der unbelebten Natur zu suchen? Auch wer 
das Walten von Kraft und Stoff gelten läßt, darf in dem Lebenden eine Naturerscheinung 
für sich sehen.“ 
Mechanistische Methode. Richten wir unsern Blick zunächst einmal auf das, was 
die durchaus als berechtigt anzuerkennende mechani- 
stische Forschungsmethode für eine Erklärung der Lebenserscheinungen bis jetzt geleistet 
hat; natürlich darf das hier nur in ganz weiten Umrissen geschehen. 
Zu den allgemeinsten Naturgesetzen gehören die Gesetze der Energetik, und ihnen 
gehorchen auch die körperlichen Spsteme der Pflanzen und Tierez letzteres erkannt zu haben, 
ist ein großer Gewinn, den wir in erster Linie Zulius Robert Mayer, dem genialen Ent- 
  
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