Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
X. Buch. Allgemeine Naturwissenschaft; Botanik; Abstammungselehre. 101 
  
decker des Gesetzes von der Erhaltung der Energie, zu danken haben. Dies Gesetz sagt aus, 
daß in einem geschlossenen materiellen Sostem die Energie eine unveränderliche Größe 
ist, daß ihr Betrag nur vermehrt werden kann durch Zufuhr neuer Energie von außen, 
sich nur vermindert durch Abfluß von Energie nach außen; während innerhalb des Sp- 
stems wohl die Form, nicht aber der Gesamtbetrag der Energie zu wechseln vermag. 
Dem zur Seite steht der zweite Hauptsatz der Energetik, der auf die Arbeiten von Sadi 
Carnot zurückgeht und welcher lehrt, daß Energie nur damn Arbeit leistet und damit über- 
haupt Geschehen ermöglicht, wenn sie aus einem Zustande höherer Spannung in einen 
Zustand geringerer Spannung übergeht. Diese beiden Energiegesetze beherrschen den 
Stoffwechsel und den Kraftwechsel auch der Pflanzen und Tiere, und deshalb ist Leben 
ohne ihre Geltung nicht vorstellbar. 
Sehen wir uns das Verhalten der Tiere und Pflanzen zu den Sätzen der Energetik 
etwas näher an; die letzten Zahrzehnte haben diesen wichtigen Teil der Biologie bis zu 
genauen quantitativen Bestimmungen herausgearbeitet. Danach ist der lebende Tier- 
körper, dem sich unter den Pflanzen die Pilze ganz gleich verhalten, ein materielles 
Sypstem, das von außen her Energie aufnimmt, in seinem Innern speichert und dann 
wieder verausgabt in dem Maße, wie es mechanische Arbeit und Bewegungen aller Art, 
äußere und inmere, zu leisten hat. Tiese Energie wird als Nahrung in den Pilz oder 
Tierkörper eingeführt in der Form verbrennlicher Kohlenstoffverbindungen, und die 
potentielle Energie dieser letzteren wird durch Verbrennung und anderweitige Zersetzung 
in Bewegungsenergie oder Arbeitskraft übergeführt, die das Leben unterhält. Hierin 
gleichen Pilze und Tiere einer Dampfmaschine, einer Uhr, einem Elektromotor. Es scheint 
somit der alte Satz des Descartes, daß die Tiere Maschinen seien, durch die neuere ener- 
getische Forschung bestätigt zu werden. Woher entnehmen nun Pilze und Tiere ihre 
aus verbrennlichen Kohlenstoffverbindungen bestehende Nahrung, die Kohlenhpdrate, 
Fette und Eiweißstoffe? Sie werden der Tierwelt von der Pflanzenwelt dargereicht; 
denn nur die grüne Pflanze verfügt über die Kunst, aus der unverbrennlichen 
Kohlensäure und, sofern es sich um Eiweiß handelt, unter Hinzunahme von Salpeter und 
Schwefel jene Verbindungen aufzubauen. Um aber aus Kohlensäure vom Energieinhalt 
Lull Zucker zu bilden, dessen Energieinhalt rund 3500 Einheiten beträgt, kann die Pflanze 
nicht Energie beliebig aus ihrem Innern schöpfen; vermöchte sie das, so wäre sie ein 
Perpetuum mobile, und ein solches ist unmöglich. Daher wird den Pflanzen die erforder- 
liche Energie zugestrahlt von der Sonne, die uns für unfre tellurischen Verhältnisse bis 
auf weiteres als unerschöpfliches Energiereservoir gelten mag. Somit sind die grünen 
Zellen von Pflanzen Maschinen zur Umwandlung von kinetischer Sonnenenergie in 
potentielle chemische Energie, die Pilze und die Tiere Maschinen zur Wandlung dieser 
chemischen Energie in kinetische oder Arbeitsenergie und zu deren Verausgabung in der 
Form von Bewegung und Wärme. 
Damit ist die Antwort auf die Frage nach der energetischen Grundlage des Lebens 
erteilt, wobei noch hinzugefügt sein mag, daß auch alle Pflanzen in den nicht grün gefärbten 
Teilen ihres Körpers chemische Energie in Arbeitsenergie umsetzen und diese letzten Endes 
verausgaben, worin wieder eine Ubereinstimmung zwischen tierischem und pflanzlichem 
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