Full text: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft. Neunter Band. Jahrgang 1853. (9)

360 Betrachtungen 
Theil der fortdauernden Lasten für heruntergekommene Familien ersparen 
könnte, fehlt es durchgängig. 
Bei der immer steigenden Menge der Beistand Suchenden ist man in 
der Festhaltung der äusseren Merkmale der Hilfsbedürftigkeit so strenge als 
möglich; es muss erst das Letzte verkauft, der völlige äussere Verfall mit 
allen legitimen Zeichen der Armuth sichtbar sein, bevor auf Unterstützung 
zu hoffen ist, worauf nicht eben die Besten zu speculiren wissen. 
Ein leidiger Schematismus der Verwaltung, der hier eingerissen, nährt 
diese Ucbelstände immer grösser. 
Der angeblich Arme, der ein Bittgesuch macht, wird zum Armenarzt 
oder Kreisphysikus gewiesen, welcher seine Arbeitsfähigkeit untersuchen soll. 
Diese Aufgabe, die bei einem Thiere oft schwer lösbar wäre, ist es — die 
durch Krankheit hervorgerufenen Fälle ausgenommen, — in der Regel vollends 
bei dem Menschen, dessen moralische und intellectuelle Eigenschaften selbst 
in der niedrigsten auf Handarbeit gewiesenen Klasse die Erwerbsfähigkeit 
in einem Maasse bestimmen, welches durch äusserliche Untersuchung gar 
nicht zu erkennen ist. 
Gleichwohl entscheidet der Arzt nach flüchtiger Anschauung und Be- 
tastung des Körpers, ob der Vorgeführte arbeitsfähig ist oder nicht und sein 
Attest wird nun die Grundlage oft lebenslänglich fortlaufender Unterstützungen. 
Eine Armencommission von Bürgern, der die meisten nur widerwillig und 
ohne Activität angehören, verwaltet diesen Zweig des Kommunalwesens in 
der Regel lau, oberflächlich und ohne sich in fortwährender persönlicher 
Anschauung zu halten. Die Einwohner aber durch eine erhöhete Armen- 
steuer bei fortlaufenden Ansprüchen an die Privatmildthätigkeit, bei fort- 
dauerndem Betteln unmuthig, verhärten in ihrem Interesse an der Armen- 
pflege — bei der eigentlich jeder Menschenfreund und Christ mitthätig sein 
sollte — gänzlich. Höchstens wird noch Geld gegeben. Persönlicher Bei- 
stand, eine liebevolle Theilnahme, Pflege und Berathung, deren der Arme 
oft noch vielmehr bedarf, werden ihm wohl selten zu Theil. An Arbeits- 
häusern, in welchen ohne erschwerende Formen die aus Mangel an passender 
Arbeitsgelegenheit oder aus Arbeitsscheu Hilfsbedürfiigen gewiesen werden 
könnten, und selbst an den nöthigen Krankenhäusern fehlt es, die grösseren 
Städte ausgenommen, noch fast überall. 
Die Armenpflege auf dem platten Lande. 
Ohne- Vergleich noch übler ist der Zustand der Ärmenpflege auf dem 
Lande. Nicht eben dass es an Gaben fehlte; die städtischen wahren und 
Pseudoarmen holen vielmehr einen grossen Theil ihres Unterhaltes von 
dem Lande, wo ihnen von einigen aus Mitleid, von noch mehreren aus 
Furcht vor Rache eine Gabe selten verweigert wird. Aber es mangelt hier 
nicht nur an allen Anstalten zur gehörigen Unterbringung von Hilfsbedürf- 
tigen, sondern an jeder Organisation der Armenpflege. In früheren 
Zeiten, in denen hilfsbedürftiige Arme auf dem Lande überhaupt noch eine 
Seltenheit waren, ersetzte diesen letzteren Mangel ein durch dauerndes
	        
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