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Eine staatskirchenrechtliche Polemik.
I.
Die Verfassungsmässigkeit der bayerischen Kirchen-
gemeindeordnung.
Von
Professor REHM, Strassburg i. E.
Im Herbst 1907 hat die bayerische Regierung ihrem Landtage den
Entwurf einer „bayerischen Kirchengemeindeordnung® vorgelegt. Nach
ihrer ausdrücklichen Versicherung war die Regierung aufs eifrigste bestrebt,
aus dem Entwurfe alles fern zu halten, was eine Aenderung der Verfassung
notwendig machen würde, um dem Zustandekommen des Ganzen die Wege
zu ebnen. An den Prinzipien des bayerischen Staatskirchenrechtes sollte
also nichts geändert werden. Und nun erleben wir das Schauspiel, dass
ein bayerischer Staatsrechtslehrer, PıLoTy !, mit der Behauptung auf den
Plan tritt, der Entwurf sei verfassungswidrig. In nicht weniger als drei
Punkten verletze er die Verfassung.
Hat PıLoTY recht? Unter keinen Umständen. Aber seine Ausfüh-
rungen sind zum Teil so originell und frappierend, dass man sich mit ihnen
beschäftigen muss.
Was der Entwurf bringen will, das ist eine Uebertragung der Verwal-
tung des Ortskirchenvermögens an die Kirche selbst und dann die Ein-
führung einer Verpflichtung zur eventuellen Erhebung einer Kirchensteuer.
Bei letzterem gleich setzt PıLoTY ein, Steuerpflicht sei Zwang, also
Druck auf das Gewissen; die Verfassung wolle die Gewissen in keiner
Form gedrückt wissen. M. a. W.: Steuerpflicht und Steuerzwang, Ver-
letzung der Gewissensfreiheit.
Hier ist übersehen, dass Gewissensfreiheit rechtlich etwas engeres be-
deutet als buchstäblich. Gewissensfreiheit ist juristisch nicht religiöse
Empfindungs-, sondern religiöse Bekenntnisfreiheit. Was dies verfassungs-
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! Die Kirchengemeindeordnung im Geiste des bayerischen Entwurfes.
Tübingen. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1908. 40 8.