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Befolgung besonders notwendig ist, weil sie ein besonders wich-
tiges Bedürfnis befriedigt. Die Wichtigkeit der Bedürfnisse, die
der Mensch hat oder die Bedeutung der Güter, deren er bedarf,
ist teils eine unmittelbare, teils eine solche, die ihnen zukommt
als einer Bedingung anderer Güter. Das geistige Leben des Men-
schen steht höher als sein körperliches Leben, ist aber von diesem
abhängig und kann nicht gedeihen ohne dessen Erhaltung; daher
ist z. B. das Nahrungsbedürfnis zwar keineswegs eines der höch-
sten, aber eines der dringendsten Bedürfnisse des Menschen, nach
dessen mindestens notdürftiger Befriedigung jeder trachten muss,
dem überhaupt noch etwas an seinem Leben liegt. Wie er zur Be-
friedigung dieses Bedürfnisses auf die ihn umgebende Aussenwelt
als eine solche angewiesen ist, der er den Stoff dazu entnimmt,
so ist er insbesondere für die Befriedigung seiner Bedürfnisse
vielfach angewiesen auf seine Mitmenschen. Er ist sowohl der
Hemmung seines Lebens durch sie ausgesetzt als der Förderung
seines Lebens durch sie bedürftig. Dafür, dass es jener möglichst
entgeht und dieser möglichst teilhaft wird, hat wesentliche Be-
deutung sein eigenes Verhalten gegen andere. Es ist ein Bedürf-
nis seines Lebens, dass er in gewissem Umfang das Ausbleiben
jener und den Eintritt dieser erwarten könne, daher auch,
dass er ein solches Verhalten beobachte, das diese Erwartung
begründet.
Wie — aus mehr als einem Grunde — im Verhalten
des einzelnen sich eine gewisse Konstanz ausbildet, so auch im
gegenseitigen Verhalten der miteinander lebenden Menschen. Je
konstanter es schon geworden ist, desto mehr sind die Menschen
in der Lage, von einander auch für die Zukunft das gleiche
Verhalten zu erwarten. Dies bedeutet, soweit das bestimmte Ver-
halten anderen förderlich ist, dass es beobachtet werden soll oder
andere seine Beobachtung erwarten dürfen, soweit es anderen
hinderlich ist, dass es beobachtet werden darf oder andere es
nicht hindern dürfen. Ein solches Verhalten ist das der Sitte