— 329 —
wenn ihnen dieser Zwang möglich ist. Das Dürfen ist eine be-
sondere Art des Könnens. Wie das Sollen die Unmöglichkeit
eines anderen Verhaltens, so bedeutet das Dürfen die Möglich-
keit des bestimmten Verhaltens ohne eine die dadurch erfolgende
Lebensförderung überwiegende Lebenshemmung. Was ich ande-
ren gegenüber von Rechts wegen unternehmen darf, das dürfte
ich doch nicht unternehmen, wäre vielmehr mir selbst schuldig,
es zu unterlassen, wenn dieses Unternehmen nicht zum Ziele
führen könnte, weil sie ihm widerstehen und ich ihren Widerstand
nicht überwinden kann. Besteht das Bedürfnis der Befolgung des
Rechtes wegen des für den Fall des Gegenteils zu erwartenden
Zwangs, so ist sie ein notwendiges Uebel im Sinne eines solchen,
dem man sich nicht entziehen kann ohne die Gefahr, grösseres
zu erleiden. Wer nur deshalb das Recht gelten lässt, hat kein
selbständiges Interesse an seiner Geltung, das dagegen hat, wer
es gelten lässt, weil es sein Leben mehr fördert als hemmt. Es
gibt immer Menschen, die durch das geltende Recht ihr Leben
mehr gehemmt als gefördert fühlen. Dass sie sich doch da-
durch bestimmen lassen, hat einmal den Grund, dass sie seiner
Anwendung auf sie sich nicht entziehen können, die mehr zu
ihren Gunsten und weniger zu ihren Ungunsten ausfällt, wenn
sie sich ihm gemäss verhalten. Es hat sodann den Grund, dass
sie zwar die Geltung eines anderen Rechtes vorzögen, aber er-
kennen, dass die Geltung des bestimmten Rechtes ihnen förder-
licher ist als die Abwesenheit positiven Rechts, weshalb sie jene
dieser vorziehen, was das Begehren seiner anders als infolge
seiner eigenen Bestimmungen erfolgenden Aenderung ausschliesst,
weil diese nicht möglich ist ohne ein in der Zeit des Ueber-
gangs stattfindendes Fehlen positiven Rechtes. Fehlt aber ein
selbständiges Interesse im ersten Falle an der Existenz des
positiven Rechtes überhaupt und im zweiten Falle wenigstens an
der Existenz des bestimmten positiven Rechtes, so erfordert doch
sowohl dessen Entstehung als dessen Erhaltung ein solches In-