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dass ein deutscher Staat, der eine Generation von Analphabeten heran-
wachsen liesse, damit eine Unzahl von Bestimmungen des Reichsrechtes
illusorisch machen würde. Und dasselbe gilt, wenn wir etwa an einen sou-
veränen Gebrauch der den Gliedstaaten verbliebenen Kompetenz zur direkten
Besteuerung denken wollten.
An einer späteren Stelle (S. 296) erklärt der Verfasser, dass der wesent-
liche Inhalt der Souveränetät in der Personalhoheit bestehe. Es ist aber
nicht einzusehen, warum die Territorialhoheit nicht mindestens ebensoviel
mit der Souveränetät zu tun haben soll, wie jene. Die hier sich zeigende
Unklarheit über das gegenseitige Verhältnis von Personal- und Territorial-
hoheit und der Gesamtheit der verschiedenen materiellen Hoheitsrechte ist
allerdings eine sehr verbreitete.
Doch wir woilen mit dem Verfasser nicht über einzelne Behauptungen
und Begriffsbestimmungen rechten. Neben so vielen anderen Meinungen
über die Souveränetät ist gewiss auch für die seine noch Platz vorhanden.
Was wir an dem Werke bemängeln müssen, ist die Art und Weise der
Behandlung des Gegenstandes. Der Verfasser schickt allerdings seinen
dogmatischen Ausführungen zwei, ungefähr die Hälfte des Werkes ausma-
chende Kapitel über die Entwicklung des Souveränetätbegriffes von Bo-
dinus bis zur Gegenwart voraus. Allein diese Entwicklungsgeschichte, auf
die wir im einzelnen nicht näher eingehen können, ist fast ausschliesslich
Literaturgeschichte. Wo er aber über den gegenwärtigen Begriff der Sou-
veränetät spricht, lässt er historische, politische und philosophische Ge-
sichtspunkte gleichmässig bei Seite — ein gerade in dieser Lehre sehr
füblbarer Mangel, den sich jedoch der Verfasser vielleicht in missverständ-
licher Auffassung der juristischen Methode zum Verdienst anrechnen wird.
Es ist insbesondere schwer zu begreifen, wie es der Verfasser unterlassen
konnte, sich mit dem tiefsten Gedanken, der über den Gegenstand ge-
äussert wurde — der von Jellinek wiederholt ausgesprochenen Idee der
Wesensgleichheit der Souveränetät mit der sittlichen Autonomie — aus-
einander zu setzen. Aber auch das positive Recht und die Rechtsverglei-
chung kommen in dem Buche zu kurz, in welchem wir kaum jemals einen
Verfassungsartikel oder eine sonstige gesetzliche Bestimmung erwähnt
finden. Anerkennenswert ist die umfassende Kenntnis insbesondere der
deutschen staatsrechtlichen Literatur, die der Verfasser an den Tag legt.
Es dürften ihm wenige Schriftsteller entgangen sein, die sich auch nur im
Vorübergehen mit der Souveränetät beschäftigt haben. Wir haben es eben
mit einem jener Werke zu tun, die sich nicht so sehr mit ihrem Gegen-
stande, als mit den von früheren Bearbeitern darüber geäusserten Meinungen
zu schaffen machen, indem sie mit einer gewissen dialektischen Fertigkeit
bald die eine, bald die andre gegen die übrigen ausspielen.
E. Radnitzky.