Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 23 (23)

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unter Individuen. Im antiken Staat gab jeder Magistrat und Prä- 
tor als Repräsentant des staatlichen imperiums seine formulae 
und exceptiones, judizierte also nach demjenigen Gewohnheits- 
rechte, welches ihm selbst billig und gerecht erschien, ohne sich 
in dieser Frage viel um die ihm anvertrauten Untertanen zu 
kümmern. Diese hatten daher zwar im gegebenen Falle Rechte 
gegen ihresgleichen, die Vorstellung aber, dass auch der Reprä- 
sentant des Staates Pflichten gegen sie haben könne, konnte 
nur in sehr bescheidenem Masse entstehen. 
Das verkehrte Bild bietet der mittelalterliche germanische 
Staat: Es entstanden ungezählte Sonderrechte, auf die jedoch 
der Staat nicht den geringsten Einfluss hatte. Jeder trug sein 
Recht mit sich und im Falle eines Widerstreites mehrerer Rechte 
entschieden die streitenden Parteien am liebsten selbst. 
Der mittelalterliche gerichtliche Zweikampf, das ganze Or- 
dalwesen war in diesem Sinne nichts als ein deklariertes Fias- 
ko der Staatsmacht. Der Staat sah zu, wie die streitenden 
Parteien — jede für sich ihr eigener Richter — ihren Prozess 
austrugen und er kam höchstens dazu, nach beendetem Kampfe 
oder Ordale zu konstatieren, wer von den beiden Streitteilen 
tot sei, verbrannte Sohlen habe, oder sonst als der verlierende 
Teil anzusehen sei. Diese jämmerliche Rolle der Staatsgewalt 
suchte man allerdings durch die Theorie zu beschönigen, als sei 
es Gott selbst, der den Streit entscheide; dadurch wurde sie aber 
nicht weniger passiv. 
Das Verhältnis zwischen dem Prinzipe der Individuation 
und dem der Koexistenz war also sowohl im antiken Staate als 
auch im mittelalterlichen ein negatives: hier steht das Indivi- 
duum dem Staate gegenüber jenseits des Rechtes, dort der Staat 
dem Individuum. Man kann zwar, wenn man will, beide Vor- 
gänge: den souverän seine Formeln austeilenden oder verwei- 
gernden römischen Prätor und den dem gerichtlichen Zweikampfe 
müssig zusehenden mittelalterlichen König als Vorgänge iuris
	        
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