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unter Individuen. Im antiken Staat gab jeder Magistrat und Prä-
tor als Repräsentant des staatlichen imperiums seine formulae
und exceptiones, judizierte also nach demjenigen Gewohnheits-
rechte, welches ihm selbst billig und gerecht erschien, ohne sich
in dieser Frage viel um die ihm anvertrauten Untertanen zu
kümmern. Diese hatten daher zwar im gegebenen Falle Rechte
gegen ihresgleichen, die Vorstellung aber, dass auch der Reprä-
sentant des Staates Pflichten gegen sie haben könne, konnte
nur in sehr bescheidenem Masse entstehen.
Das verkehrte Bild bietet der mittelalterliche germanische
Staat: Es entstanden ungezählte Sonderrechte, auf die jedoch
der Staat nicht den geringsten Einfluss hatte. Jeder trug sein
Recht mit sich und im Falle eines Widerstreites mehrerer Rechte
entschieden die streitenden Parteien am liebsten selbst.
Der mittelalterliche gerichtliche Zweikampf, das ganze Or-
dalwesen war in diesem Sinne nichts als ein deklariertes Fias-
ko der Staatsmacht. Der Staat sah zu, wie die streitenden
Parteien — jede für sich ihr eigener Richter — ihren Prozess
austrugen und er kam höchstens dazu, nach beendetem Kampfe
oder Ordale zu konstatieren, wer von den beiden Streitteilen
tot sei, verbrannte Sohlen habe, oder sonst als der verlierende
Teil anzusehen sei. Diese jämmerliche Rolle der Staatsgewalt
suchte man allerdings durch die Theorie zu beschönigen, als sei
es Gott selbst, der den Streit entscheide; dadurch wurde sie aber
nicht weniger passiv.
Das Verhältnis zwischen dem Prinzipe der Individuation
und dem der Koexistenz war also sowohl im antiken Staate als
auch im mittelalterlichen ein negatives: hier steht das Indivi-
duum dem Staate gegenüber jenseits des Rechtes, dort der Staat
dem Individuum. Man kann zwar, wenn man will, beide Vor-
gänge: den souverän seine Formeln austeilenden oder verwei-
gernden römischen Prätor und den dem gerichtlichen Zweikampfe
müssig zusehenden mittelalterlichen König als Vorgänge iuris