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Das Merkmal der Notwendigkeit, dessen Existenzberechtigung
dahingestellt bleiben kann, darf nach MARTENS (vgl. 129) auch
aus den Umständen gefolgert werden und setzt nicht eine Er-
klärung der Staaten voraus, dass sie die geschaffenen Normen
für notwendig halten. Die Quellen berichten, dass die Griechen
immer wieder Amphiktionien, Symmachien, Rechts-
schutzverträge, Münzverträge, Isopolitien geschlossen
haben, nicht selten nach langwierigen und aufreibenden Ver-
handlungen. Ihr Tun wäre unerklärlich, wollte man annehmen,
dass sie die rechtliche Regulierung des zwischenstaatlichen Ver-
kehrs nicht für notwendig, sondern überflüssig erachtet haben.
Dass dem nicht so war, ergibt auch die Tatsache, dass in Athen
zwei von den vier Volksversammlungen, welche alle 36 bezw.
35 Tage stattfanden, über die Berichte der Staatsgesandten zu
verhandeln hatten. Der grösste griechische Denker, Aristo-
teles, hat sogar die Notwendigkeit rechtlich geordneter Wechsel-
beziehungen der Staaten direkt ausgesprochen. Er zählt nämlich
unter den fünf Gegenständen, welche von der Allgemeinheit
beraten werden, die Ein- und Ausfuhr auf und führt aus, die
Beratschlagenden müssten die Höhe des Bedarfs, den Umfang
der eigenen und fremden Produktion sowie die Grösse der Ein-
und Ausfuhr kennen, um die nötigen Staatsverträge
(suvdTnaı al ovpßoAat) schliessen zu können (Rhetor.
p. 1359 f.); unter oupßoAat sind die Staatsverträge über Rechts-
schutz der Ausländer zu verstehen. Dieser Ausspruch des grie-
chischen Denkers ergibt zugleich, dass man die Theorie von der
Autarkie oder Selbstgenugsamkeit der Staaten, die er übrigens
selbst vertritt, nicht absolut auffassen und keineswegs als Argu-
5 Aristoteles, Staat der Athener Cap. 43, 45. Die Tatsache konnte von
MARTENS nicht verwertet werden, da die Schrift erst nach dem Erscheinen
seines Werkes aufgefunden worden ist. Die angeführten Stellen ergeben auch,
dass das Verfahren bei Ankuuft fremder Botschafter geregelt war. Dies
ist ebenfalls für Aegypten bezeugt (vgl. den interessanten Bericht von
G. MAspERO im Journal des Debats vom 7. April 1893).