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Dr. Friedrich Tezner, Ausgleichsrecht und Ausgleichspoli-
tik. Ein Appell an das Parlament des allgemeinen gleichen Wahl-
rechts, Wien, Manz 1907.
Die vorliegende Arbeit TEZNERS muss nach dem Zeitpunkte beurteilt
werden, in welchem dieselbe entstanden ist, nämlich während des heftigsten
Kampfes um den wirtschaftlichen Ausgleich zwischen Oesterreich und
Ungarn. Niemals vielleicht hat sich die Wahrheit des Wortes von dem
engen Zusammenhange zwischen der politischen und der wirtschaftlichen
Gemeinschaft beider Staaten der Monarchie deutlicher erwiesen als zu
jener Zeit, da an Stelle einer vertragsmässig geregelten wirtschaftlichen
Gemeinschaft das labile Verhältnis der „Reziprezität“ bestand. Es wurden
damals alle gemeinsamen Einrichtungen, besonders auch die Einheit des
Heeres in gefahrdrohender Weise von den ungarischen Politikern und Pu-
blizisten diskutiert und in Frage gestellt. Die Worte des ungarischen Mi-
nister-Präsidenten Grafen STEPHAN TıszA in der Sitzung des Abgeordneten-
hauses vom 29. Nov. 1903: Es existiert ein Österreichisch-ungarisches Aus-
gleichsgesetz nicht; es gibt zwei von einander vollständig unab-
hängige Gesetze, ein österreichisches und ein ungarisches Gesetz, die zu
verschiedenen Zeiten zustandegekommen sind und die auch ihrem Inhalte
nach in mehreren wesentlichen Punkten von einander abweichen‘, mögen
die extreme Richtung dieser Bewegung kennzeichnen. Dass diese vielfach
durch sehr gewagte Interpretation der Ausgleichsgesetze unter heftigen An-
griffen gegen die österreichische Publizistik begründete Haltung einfluss-
reicher ungarischer Politiker bei den Anhängern altösterreichischer Tradi-
tionen Erbitterung hervorrufen musste, ist nur zu begreiflich.
Aus dieser Stimmung ist nun die Schrift TEZNERs über Ausgleichs-
recht und Ausgleichspolitik hervorgegangen. Dieselbe ist ein mit leiden-
schaftlicher Polemik geführtes Plaidoyer für die Vertragsmässigkeit
der Grundlagen der gemeinsamen Einrichtungen der
Monarchie Während nämlich die ungarische Publizistik, welcher sich in
diesem Punkte auch einige österreichische Staatsrechtslehrer nähern, die
Grundlagen der politischen Gemeinschaft der beiden Reichshälften, die
Pragmatische Sanktion Karl VI. und besonders die Ausgleichsgesetze des
Jahres 1867 als einseitige Gesetze der beiden Staaten hinstellen, die
somit grundsätzlich auch einseitig abgeändert werden können, unternimmt
TEZNeErR an der Hand der Entwicklung der Zentralbehörden in der ständi-
schen Epoche sowie der einheitlichen Heeresgewalt des Monarchen als
feudal-patrimonialer Einrichtung den Nachweis, dass jene Gesetze, beson-
ders die Ausgleichsgesetze, nur auf die Erhaltung bezw. Stabilisierung einer
längst vorhandenen Gemeinschaft auch unter dem konstitutionellen Regime
gerichtet waren. Bezüglich der Pragmatischen Sanktion muss der unter
Heranziehung der neuesten Forschungsergebnisse TouRBAs geführte Nach-
weis der vertragsmässigen Vereinigung des gesamten Landeskom-