Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 43 (43)

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Nun weiß allerdings auch der positive Jurist, daß sich nicht 
alles Geschehen im vorhinein durch logische Begriffskonstruktionen 
meistern läßt und er rettet die Vollkommenheit seines Systems durch 
den Hinweis auf das „Ermessen“ des Richters oder Verwaltungsbeam- 
ten. Er verknüpft die Akte des Ermessens durch den Begriff der 
Organkompetenz, gegebenenfalls auch durch die Begriffe der mate- 
riellen Rechtskraft und der obrigkeitlichen Befehls- und Zwangs- 
gewalt mit dem „Willen des Gesetzgebers“, dem „Staat“ oder wie 
er sonst die als Einheit gedachte Summe der verbindlichen Normen 
nennt. Aber was innerhalb der Ermessensphäre geschieht, ist 
„quaestio facti“, ist „juristisch“, das heißt für den positiven Juristen, 
ohne Interesse. Im übrigen blickt er auf abweichende Ansich- 
ten anderer herab, wie der Mathematiker auf eine unrichtige For- 
mel. Im Sinne dieser Auffassung kann es für jeden Rechtsfall, 
abgesehen von jenem Ermessensspielraum mit seiner quaestio facti, 
nur eine Lösung geben. Die „Wissenschaft“ der Rechtsdogmatik 
kann im Geiste dieser Anschauung nur die Aufgabe haben, diese 
einzig richtige Lösung mit mathematischer Präzision und Schärfe 
zu ermitteln und zu beweisen. Dies ist der Zweck juristischer Mono- 
graphien, Kommentare und Systeme. Demgemäß gelten diese 
Werke nur so weit als „wissenschaftlich“, als sie sich auf Gesetz 
und Logik beschränken, während die Verwertung subjektiver Wert- 
urteile, des Rechtsgefühls oder irgendwelcher politischer Wünsche 
de lege ferenda als nicht zur „Wissenschaft“ gehörig abgelehnt 
wird. 
Dies ist, trotz freirechtlerischer Kritik, im wesentlichen die 
herrschende Anschauung unseres Juristenstandes. Sie ist grund- 
legend für unser ganzes Staats-, Rechts- und Wirtschaftsleben. 
Denn auf ihr beruht der Glaube an die Allmacht des Gesetzgebers, 
der sich in der unübersehbaren und manchmal so_stikmperhaften 
Gesetzesfabrikation unserer Parlamente auswirkt und der in.der 
Selbstherrlichkeit, Wortbrüchigkeit und Unaufrichtigkeit der Frie- 
densverträge von 1919/20 wobl kaum mehr zu überbietende
	        
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