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lative anvertraut ist, wenn auch vielleicht unter dem Vorbehalt
qualifizierter Mehrheit. Im ersteren Falle — Beispiel: Ver. Staaten
von Amerika — sei es juristisch zulässig oder gar notwendig, daß
der Richter über der Einhaltung der Schranken der Legislative
wache, im andern Falle sei dies mit juristischer Logik ausge-
schlossen. Auch das ist nichts als Begriffsjurisprudenz nach
beiden Seiten hin! Angenommen, es sei sonst am Platze, die
Gerichtshöfe zu Mitgaranten der Verfassungsurkunde zu berufen,
so ıst nicht einzusehen, weshalb ihr Schutz nicht der Minderheit
des einheitlichen Gesetzgebungskörpers ebensowohl zugute kom-
men sollte wie den Rechten eines besonderen Pouvoir Constituant‘.
Und umgekehrt: wenn Bedenken bestehen, den Gerichten diese
Rolle zuzuweisen, so gelten sie auch für Länder mit besonderem
Pouvoir Constituant. Konkret gesprochen: Man kann daraus,
daß sich jetzt Baden und Hessen in Gestalt des obligatorischen
Verfassungsreferendums ein besonderes Pouvoir Constituant bei-
gelegt haben, keinen juristisch zwingenden Schluß auf die Ueber-
prüfbarkeit der badischen und hessischen Gesetze ziehen. —
Auch die Anhänger des richterlichen Prüfungsrechts lieben
es, ihren Argumenten die Form von „Beweisen“ zu geben. Es
liegt so nahe, aus dem „Wesen“ oder „Begriff“ der unabhängigen,
nur dem Gesetze unterworfenen Rechtsprechung oder auch aus
dem „Wesen“ der Funktionenteilung abzuleiten, daß der Richter
nicht gezwungen werden könne, ein Gesetz anzuwenden, das seiner
Ueberzeugung nach materiell verfassungswidrig sei. Schon dem
aufrechten und freiheitliebenden Bürger dürfe das nicht zugemutet
werden, das folge, meinte vor Zeiten R. von MOHL, aus dem
—— nl.
* Auch der von W. JELLINEK a. a. O. angeführte Grund: Wo die
gewöhnliche und die Verfassungsgesetzgebung von den gleichen Organen
ausgeübt werde, bedeute Verfassungsänderung mit einfacher Mehrheit nur
einen Verfahrensmangel; Verfahrensmängel aber bewirkten in der Regel
nicht die Nichtigkeit von Staaatsakten — ist nicht durchschlagend. Das
ist eben die Frage, ob nicht hier ein wesentlicher, Nichtigkeit bewirkender,
Verfahrensmangel vorliege. Vgl. WITTMAYER S. 462 n. 63.