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schen Landesrecht und Reichsrecht, wofür erst jetzt art. 13, Abs. 2
der Weimarer Verfassung das Heilmittel gefunden hat. — Wie übri-
gens — beiläufig bemerkt — das neue österreichische Recht für die
Verordnungsprüfung vorbildliche Wege einschlägt: Der Richter,
der einer Verordnung die Anwendung versagen will, muß das
Verfahren aussetzen und eine ihn bindende Entscheidung des
Verfassungsgerichtshofes einholen. —
Nichtprüfung also ist der bisher traditionelle und — wer
möchte es leugnen? — vom Standpunkte der Justiz betrachtet durch-
aus befriedigende Zustand gewesen. Inzwischen haben sich nun
freilich die politischen Zustände aus dem Fundamente geändert;
die Verfassungsurkunden sind weitaus inhaltsreicher geworden, ins-
besondere ist die Reichsverfassung mit Grundrechts- und anderen
Artikeln ausgestattet, hinter deren, im Wege des Kompromisses
aufgetürmten Wällen, die verschiedenen Parteien ihre wichtigsten
religiösen, wirtschaftlichen und geistigen Güter geborgen haben;
weiter: die Erschwerung der Verfassungsänderung sind im Reich
und in den Ländern einschneidender geworden und die Besorgnisse,
es möchten sich einfache Parlamentsmehrheiten unter brutaler Ueber-
stimmung der Minderheit über diese Schranken hinwegsetzen, können
nicht mehr so leichtkin von der Hand gewiesen werden, wie früher.
Also entsteht die Frage: Kann die deutsche Jurisprudenz festhalten
an dem rechtspolitisch durchaus befriedigenden Grundsatz der Nicht-
überprüfbarkeit der Gesetze, oder sieht sie sich genötigt, ihn preis-
zugeben, um den bedrohten neuen Verfassungen zu Hilfe zu eilen ?
So allein scheint mir die Frage richtig gestellt! Niehtüber-
prüfung ist das uns historisch Gegebene, ist deutsche, ja europäische
Tradition® und durchaus causa favorabilıs.
° Art. 139 der Bundesverfassung v. 1. Okt. 1920 und 88 50 ff. des Ges.
vi 13. Juli 1921 über die Organisation u. über d. Verfahren des Verfassungs-
gerichtshofes. Vgl. H. KELSEN, Die Verfassungsgesetze der Republik
Oesterreich, 5. Teil, Die Bundesverfassung, 1922, 8. 47, 258 ff., 426 f.
® Unbeschadet einzelner Ausnabmen in kleineren europäischen Staaten.