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hat Gottfried aufgezogen in der Schilderung der Minnengrotte. Das
einsame Leben, das die Liebenden dort führen, gehört zu den schön-
sten Idyllen, die je geschrieben sind. Hier steht ihm die einschmei-
chelndste Gewalt der Sprache zu Gebote. Das Rauschen der
Bäume meinen wir über uns zu hören, das Fächeln leiser Lüfte an
unsern Wangen zu spüren, wir fühlen uns gewiegt und geschaukelt
und eingelullt in suße Träume. Wie ein zarter Duft schwebt über
dem Ganzen die idealische Schilderung der Liebe, die an eine alle-
gerische Deutung der Grotte angeknüpft wird.
Der Liebesdienst erweicht Sitten und Gesinnung. Alles was
von zarten Stimmungen und Gefühlen in der Zeit vorhanden war,
was von den verschlungensten Wegen und Irrwegen der Empfindung
in der tiefsten Brust verschlossen lag, das hat Gottfried wie in
einen Strauß zusammengebunden. Sein Gedicht ist gleichsam ein
Coder des männlichen und weiblichen Herzens. Und die ergreifende
Tragik seiner Erzählung liegt in jener auflösenden Seelenweichheit,
durch welche jede feste Lebensführung dem Menschen entgleitet. Der
Tristan ist die Tragödie der Schwäche, die aus der unbedingten
tHerrschaft des Gefühls entspringt. Das Gedicht erscheint uns vor-
bildlich — und wurde von Gottfried mit Bewußtsein so aufgefaßt —
für die ganze Gemüthsrichtung der Zeit, aus welcher der Minnegesang
erwuchs. Wie die jugendliche Phantasie der Völker gewaltige Geistes-
mächte auf übernatürliche Einwirkungen zurückführt, so hat die Sage
hier die Allgewalt der Leidenschaft durch den Zaubertrank symbo-
lisirt, der Tristan und Isolde an einan er bindet. Dieser tritt als
das unabwendbare Verhängnis auf, da alle Verhältnisse zerrüttet,
das Getrennte vereinigt, das Verbundene trennt, das Reine befleckt,
die Satzungen des Rechtes durchbricht und schließlich die Liebenden
selbst einander entfremdet. Die Soyhistik Tristans, der seine Un-
treue beschönigen will, hat etwas erschütterndes, so trostlos wahr
ist jeder Zug. Gottfried ist damit auf dem Gipfel der psychologischen
Kunst angelangt. Gerade bei dieser Stelle aber ereilte ihn der
Tod, er hat sein Werk unvollendet hinterlassen.