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auch aus Art. 11 der Reichsverfafsung, welcher nicht allein den Kaiser ermächtigt,
Verträge für das Reich abzuschließen, sondern zugleich den Befehl enthält, diese
Verträge zu befolgen?.
Ob ein Gesetz oder ein Vertrag des Deutschen Reiches Gesetze oder Verträge
eines Bundesstaates aufheben will, hängt einmal von der Zuständigkeit des Reiches
und sodann von seinem Willen ab. Letzteres stellt eine Auslegungsfrage dar ?2.
Unzweifelhaft ist, daß so wenig der Vertrag wie das Gesetz eines deutschen Bundes-
—* ein Gesetz oder einen Vertrag des Deutschen Reiches abändern oder auf-
eben kann.
5*63. Das Gesandtschaftsrecht?.
Gesandte kann Jedermann entsenden wie empfangen: ein Monarch wie ein
Privatmann, ein souveräner wie ein abhängiger Staat, ein Bundesstaat wie ein
Staatenbund, ein zusammengesetzter wie ein Einheitsstaat. Das Staatsrecht hat
es nur mit gewissen Arten von Gesandten zu thun, und zwar mit solchen, welche
Beamte find und welchen zugleich völkerrechtlich oder, anders ausgedrückt, nach den
vom Empfangsstaate anerkannten völkerrechtlichen Vorschriften gewisse Sonderrechte
zustehen, namentlich die Befreiung von der Gerichtsbarkeit des Empfangsstaates.
Im Reichsstaatsrecht haben wir es zu thun mit Gesandten des Deutschen Reiches.
Diese sendet der Kaiser (Art. 11 der Reichsverfassung); ihre Anstellung beruht auf
der kaiserlichen Ernennung, nicht auf dem Etatsgesetze; sie find kaiserliche Beamte,
weil unmittelbare Reichsbeamte", und dem Gesetze, betreffend die Rechtsverhältnisse
der Reichsbeamten, vom 31. März 18783 (R.-G.-Bl. 1873, S. 61) unterstellt 5.
Sie können wie alle diplomatischen Agenten nach § 25 dieses Gesetzes jederzeit und
beliebig vom Kaiser mit Gewährung des gesetzlichen Wartegeldes einstweilig in den
Ruhestand versetzt werden. Sie können nicht, wie z. B. der Reichskanzler und der
Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, jederzeit auch ohne eingetretene Dienst-
unfähigkeit ihre Entlassung erhalten und fordern (§ 35 daselbst). Ueber die Be-
rechnung ihres penfionsfähigen Dienstalters gelten besondere (günstigere) Vorschriften
(6 51 daselbst). Für Gesandte kommt folgende, durch Gesetz vom 26. Februar 1876
(R.-G.-Bl. 1876, S. 25) in das Strafgesetzbuch als § 358# eingeschaltete Vor-
schrift zur Anwendung: „Ein Beamter im Dienste des Auswärtigen Amtes des
Deutschen Reichs, welcher die Amtsverschwiegenheit dadurch verletzt, daß er ihm
amtlich anvertraute oder zugängliche Schriftstücke oder eine ihm von seinem Vorgesetzten
ertheilte Anweisung oder deren Inhalt Anderen widerrechtlich mittheilt, wird,
sofern nicht nach anderen Bestimmungen eine schwerere Strafe verwirkt ist, mit
Gefängniß oder mit Geldstrafe bis zu fünftausend Mark bestraft.“ — „Gleiche Strafe
trifft einen mit einer auswärtigen Mission betrauten oder bei einer solchen be-
schäftigten Beamten, welcher den ihm durch seinen Vorgesetzten amtlich ertheilten
1 S. oben S. 710, ferner Stoerk, in
v. Stengel's Wörterbuch, II, S. 527, und die
dort angezogenen Erkenntnisse, namentlich des
Reichsgerichts vom 22. September 1885, Entsch.
in Straff., Bd. XII, S. 384.
2 Das Erkenntniß des Reichsgerichts vom
1. Juli 1889 in den Entscheid. in Civilsachen,
Bd. XXIV, S. 12, nimmt nach den Motiven
zur Reichskonkursordnung an, daß diese nicht
beabsichtigt habe, die am 6. Januar 1854
wiischen Sachsen und Oesterreich abgeschlossene
ebereinkunft wegen der wechselseitigen Dpano-
lung von Konkursfällen außer Kraft zu etzen.
Dies mag hier dahin gestellt bleiben. Anderer-
seits un es als Regel gelten, daß Reichsgesetze
ältere, ihnen widersprechende Verträge einzelner
Bundesstaaten ipso jure außer Krast sepen.
Die Gültigkeit des Vertrages beruhte für Sachsen
nur auf dem Willen des Königs von Sachsen.
nicht auf dem des Kaisers von Oesterreich, noch
auf einem Vertrage. Willenserklärungen des
Königs von Sachsen können aber ohne den
Kaiser von Oesterreich durch Reichsrecht auf den
der Reichszuständigkeit unterliegenden Gebieten
außer Wirksamkeit gLergt werden.
* Literatur: Außer den Lehrbüchern des
Staats= und Verwaltungsrechts Miruß, Das
europäische Gesandtenrecht, Leipzig 1847, Geff-
cken, in v. Holtzendorff's Handbuch des Völker-
rechts. Bd. III. S. 603, Stoerk, ebendort, II,
S. 656, Zorn, in v. Stengel's Wörterbuch, 1,
S. 573 f.
4 Oben S. 637.
5 Oben S. 639.