Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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schweigende Entsagung steht der ausdrücklichen 
in der Wirkung gleich, vorausgesetzt, daß die 
Handlung, aus welcher die Abdankung gefolgert 
werden will, keine andere Erklärung zuläßt als 
die: der so Handelnde wolle abdanken. Ob im 
einzelnen Fall diese Voraussetzung gegeben ist, 
wird sich sehr oft zu einer schwierigen Tatfrage 
gestalten und daher die Geltendmachung einer 
stillschweigenden Abdankung leicht zu Irrungen 
und Streitigkeiten Anlaß geben. Man führt als 
Beispiel derselben an, wenn ein Monarch dauernd 
sein Land verläßt (wie Heinrich von Valois Polen, 
18. Juli 1574) und ungeachtet ausdrücklicher 
Aufforderung nicht in dasselbe zurückkehrt. Diese 
Argumentation wurde auch in der englischen Re- 
volution von 1688 vorgebracht und sogar von 
der dynastisch gesinnten Partei hingenommen. 
Durch diese Fiktion, der König habe durch gewisse 
Verfassungsverletzungen abgedankt, half man sich 
über den Widerspruch zwischen dem Grundsatz, 
daß in gewissen Fällen der englische König ab- 
gesetzt werden könne, und dem gleichfalls englischen 
Rechtssatz: der König kann nicht unrecht tun. 
Als weiteres Beispiel stillschweigender Abdankung 
ist es bezeichnet worden, wenn der Monarch eines 
Staates, der verfassungsmäßig einer bestimmten 
Konfession angehören muß, diese wechselt. Seine 
Handlung leide da keine andere Auslegung als 
die des Verzichts auf seine Eigenschaft als Sou- 
verän. Dagegen zieht eine nach dem Regierungs- 
antritt eingetretene Unfähigkeit in der Regel nicht 
den Verlust des Throns nach sich, sondern führt 
zum Eintritt einer Regentschaft. In der Tat ist 
in einigen neueren Verfassungen der Annahme 
einer fremden Krone bzw. dem Umstand, daß 
der Berechtigte seine Residenz in dem betreffenden 
Staat nicht nehmen kann oder will, direkt oder 
indirekt die Bedeutung eines stillschweigenden Ver- 
zichts auf die Souveränität beigelegt worden 
(bayrische Verfassung Tit. II, § 6; coburg- 
gothaisches Grundgesetz § 19). Die kurze Be- 
stimmung, daß der Souverän seinen wesentlichen 
Aufenthalt nicht außerhalb des Landes nehmen 
darf, findet sich auch in den Verfassungsurkunden 
von Sachsen (§ 5), Württemberg (§ 6), Olden- 
burg (Art. 14), Braunschweig (8 13), Waldeck 
(8 12), Reuß ältere Linie (§ 4); ebenso daß der 3 
Monarch, gewisse Fälle ausgenommen, nicht zu- 
gleich Herrscher fremder Reiche sein kann (Preußen 
Art. 55, Sachsen 8 6, Oldenburg Art. 15). Be- 
stritten ist, ob in Ermanglung einer positiven 
Bestimmung die Nichtleistung des Verfassungs- 
eides als Grund des Verlustes der Krone be- 
trachtet werden kann. Den Verfassungseid for- 
dern z. B. die Verfassungsurkunden von Preußen 
(Art. 54), Württemberg (§ 10), Oldenburg 
(Art. 197), Schwarzburg-Sondershausen (8 18). 
Auch die Frage könnte aufgeworfen werden, ob 
der Eintritt des Monarchen in fremde Dienste 
einem stillschweigenden Verzicht gleichkomme, ins- 
besondere wenn die Verfassung denselben aus- 
Abdankung. 
  
  
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drücklich für unzulässig erklärt (oldenburgische 
Verfassung Art. 15). 
5. Beispiele aus der Geschichte. Bei- 
spiele von Niederlegung der Regierung sind in 
der Geschichte nicht selten und reichen bis in 
die neueste Zeit. Sehr häufig finden sie sich 
in Spanien, Savoyen, Sardinien; so dankten 
ab Alfonso IV. von Asturien 931, Ramiro II. 
von Aragonien 1137, Karl I. (V.) 1556, Phi- 
lipp V. 1724, Karl IV. 1808; in Savoyen und 
Sardinien: Amadeus VIII. 1434, Amadeus IX. 
1469, Viktor Amadeus 1730, Karl Emanuel 
1802, Viktor Emanuel I. 1819; in Frankreich: 
Napoleon I. 1814, 1815, Karl X. 1830; in 
England: Richard II. 1399, Jakob II. 1688; 
König Ludwig von Holland 1810 und Wilhelm I. 
1840; in Schweden: Christine 1654; in Polen: 
Heinrich (III.) von Valois 1574, Johann Kasimir 
1668, August II. der Starke 1706, Stanislaus 
Leszczynski 1735, Stanislaus Poniatowski 1795. 
Bisweilen werden auch Ptolemäus Lagi von Agyp- 
ten (285 v. Chr.) sowie Diokletian und Maximian 
(305) hinzugerechnet. Eine über das Interesse eines 
Landes hinausgehende Kronentsagung enthält die 
durch den Rheinischen Bund veranlaßte Abdan- 
kungsakte Kaiser Franz' II. vom 6. Aug. 1806. 
Das Eintreten des päpstlichen Stuhls gegen die 
Konsequenzen dieses Schrittes und für die Wieder- 
aufrichtung des heiligen römischen Reichs deut- 
scher Nation (Note Consalvis vom 14. Nov. 1814 
und 14. Juni 1815) war nicht von Erfolg be- 
gleitet. Schließlich sind noch die infolge der Er- 
eignisse des Jahrs 184 8 erfolgten Rücktritte des 
französischen Königs Ludwig Philipp, des Kaisers 
Ferdinand I. von Osterreich, des Königs Ludwig I. 
von Bayern, des Königs Karl Albert von Sar- 
dinien sowie die Abdankung des Königs Amadeus 
von Spanien zu erwähnen. In der preußischen 
Staatsgeschichte gibt es kein Beispiel einer könig- 
lichen Thronentsagung. Nicht selten folgte dem 
Entschluß des Abdankenden die Reue, meist zu 
spät; so geriet König Viktor Amadeus II. von 
Sardinien 1730 durch einen Versuch, sich der 
Regierung wieder zu bemächtigen, in die Ge- 
fangenschaft seines Sohnes Karl Emanuel III. 
Literatur. Monographien über A. aus älterer 
Zeit: Becmann (1671), Schurzfleisch (1671), Gün- 
ther (1682), Rothe (1682), Muldner (1692), Fritsch 
(1699), Olearius (1702), Willenberg (1723), Dieth- 
mar (1724), Hassen (1734); über Karls V. A. spe- 
ziell Godelevanus (1574) und Obrecht (1670). Für 
die neuere Zeit: v. Fritsch, Thronverzicht (1906); 
Abraham, Thronverzicht nach deutschem Staats- 
recht (1906); ferner die Staatsrechtslehrbücher, 
z. B. Moser, Staatsrecht TI XXIV (1746); Klüber, 
Hffentl. Recht des Bundes u. der Bundesstaaten 
(1840); Zöpfl, Staatsrecht (5/1863); Zachariä, 
Deutsches Staats= u. Bundesrecht 1 (/1865); Held, 
Staatsrecht II (1868); v. Gerber, System des deut- 
chen Staatsrechts (31880); Pözl, Bayr. Verfas- 
sungsrecht (5:1877); v. Schulze-Gävernitz, Preuß. 
Staatsrecht I (21888); G. Meyer-Anschütz, Staats- 
recht (61905). [Bruder, rev. Red.) 
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