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unter der gegenteiligen Strömung der Rückschritts-
bewegungen sich vollzog; die zwiespältige Stellung
Abgeordneter.
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Vertretung des Volkes als Ganzen das Gemein-
wohl aller und des gesamten Landes wahrnehmen.
in Bezug auf das Immunitätsrecht nach englischer Daraus ergibt sich, daß der einzelne Abgeordnete
und belgisch-französischer Auffassung ist hier be- nicht der Beauftragte, der Bevollmächtigte seiner
sonders bemerkbar. Für die Auslegung der in Wähler wird, der ihre Wünsche und die Interessen
Betracht kommenden Rechtssätze ist hier das Inter- des engeren Wahlkreises mit den Wünschen des
pretationsmaterial öfter recht dürftig, teils weil gesamten Volkes, den Interessen des ganzen Landes
die Verfassungen nicht immer vereinbart, sondern identifizieren, die ersteren an die Stelle der letzteren
oktroyiert wurden, daher eine Erörterung derselben setzen dürfte. Der Abgeordnete muß über diese
bei ihrer Entstehung in den gesetzgebenden Körper= Lokalinteressen hinaus die Gesamtinteressen im
schaften überhaupt nicht stattfand, teils weil die Auge haben, unbeengt von jenen sein Verhalten
für die Stellung der Abgeordneten maßgebenden einrichten und seine Stimmenach freier Uberzeugung
Sätze als Axiome der herrschenden Anschauungen nur in Rücksicht auf die letzteren abgeben. Damit
einer eingehenden Besprechung nicht mehr zu be-
dürfen schienen.
II. Wesen der Abgeordnetenstellung. Man
wird nicht behaupten können, daß für den Satz
Montesquieus, das Volk habe als Ganzes die
gesetzgebende Gewalt auszuüben, in den eng-
lischen Verfassungszuständen ein äußerer Anhalt
geboten gewesen sei, da bis heute noch die stän-
dische Grundlage des englischen Parlaments sich
erhalten hat. Auch für den Folgesatz hieraus, daß
nämlich die Repräsentantenversammlung, das Par-
lament, wie jeder einzelne Abgeordnete das ganze
Volk vertrete, fehlt es an einem solchen Anlaß.
Von den ältesten Zeiten her waren vielmehr die
einzelnen Mitglieder des englischen Unterhauses
nichts weiter als die Vertreter ihrer engeren Wahl-
bezirke, Bevollmächtigte, die nach Gesetz und Ge-
wohnheit neue „Hilfen“ nicht ohne vorherige Rück-
sprache mit ihren Wählern zu genehmigen wagten
und sogar, um diese Genehmigung einzuholen,
die Vertagung des Parlaments veranlaßten. In-
dessen wird jene Auffassung von der Stellung des
Abgeordneten als des Vertreters des gesamten
Volkes bereits von Blackstone (1723/80) als
geltendes Recht bezeichnet, obgleich sie in keinem
einzigen Statut der englischen Verfassungs-
geschichte ihre Begründung und ihren Ausdruck
findet. Sie ist sodann unbestrittenes Recht in
allen konstitutionellen Staaten der Erde ge-
worden, teils kraft ausdrücklicher Vorschrift (z. B.
Belgien Art. 32, Niederlande [Art. 74], Italien
IArt. 41), Luxemburg /Art. 50))) teils unaus-
gesprochen als in der Natur des konstitutionellen
Systems liegend. — Auch die deutschen Ver-
fassungen sprechen zum größten Teil diesen Grund-
satz aus (z. B. Deutsches Neich (Art. 29), Preußen
Art. 83J). Bayern [§ 25|, Sachsen/§ 781. Braun-
schweig '§ 961. Coburg-Gotha (§ 69], Lübeck
[Art. 261). Diese Auffassung bildet den wesent-
lichsten Unterschied des neuen Nepräsentativsystems
von der alten ständischen Vertretungsart. Während
der ständische Abgeordnete „vor allem und wesent-
lich Vertreter und Wahrer der eigenen Rechte, der
Rechte seines Standes“ war, wie König Friedrich
Wilhelm IV. von Preußen bei Eröffnung des
ersten Vereinigten Landtags der preußischen Mon-
archie im Jahr 1847 sich ausdrückte, soll der Ab-
geordnete im Sinn des Repräsentativsystems in
entfällt jede Möglichkeit einer Bindung des Ab-
geordneten an Aufträge und Instruktionen seitens
seiner Wähler. Auch dieser Satz gilt in allen
konstitutionellen Staaten und findet sich meist mit
dem ersteren zusammen in den Verfassungen ver-
zeichnet. Nur für den deutschen Reichstag ist dies
in gewisser Hinsicht nicht immer der Fall gewesen,
indem gemäß den Verträgen, auf Grund deren die
süddeutschen Staaten in den Deutschen Bund ein-
traten, in den Art. 28 der Reichsverfassung der
Abs. 2 ausgenommen wurde: „Bei der Beschluß-
fassung (des Reichstags) über eine Angelegenheit,
welche nach den Bestimmungen dieser Verfassung
nicht dem ganzen Reich gemeinschaftlich ist, werden
die Stimmen nur derjenigen Mitglieder gezählt,
die in Bundesstaaten gewählt sind, welchen die
Angelegenheit gemeinschaftlich ist.“ Dieser Absatz
entsprach der Bestimmung für den Bundesrat in
Art. 7 Abs. 4 der Reichsverfassung und wies den
Reichstagsmitgliedern unter den genannten Um-
ständen die Stellung von Vertretern der einzelnen
bundesstaatlichen Völker an, entsprechend der Stel-
lung der Bundesratsmitglieder. Auf die Initia-
tive des Reichstags ist diese mit der Reichseinheit
in Widerspruch stehende Bestimmung durch Gesetz
vom 24. Febr. 1873 beseitigt worden, so daß nun-
mehr der erwähnte Satz auch auf die Reichstags-
abgeordneten uneingeschränkt seine Anwendung
findet. Aus dem gedachten Satz folgt dann
weiter, daß der Abgeordnete, wenn er nicht Be-
auftragter seiner Wähler ist und diese nicht die
Geschäftsherren sind, diesen auch für seine Ab-
stimmungen und überhaupt für die Art und Weise,
wie er seine Abgeordnetenpflichten erfüllt, rechtlich
nicht verantwortlich ist; vor allem ist es nicht in
die Macht der Wähler gelegt, den von ihnen ge-
wählten Abgeordneten abzuberufen. Damit ist
aber selbstverständlich nicht ausgeschlossen, daß der
Abgeordnete für lokale Wünsche und Interessen,
vor allem des eigenen Wahlkreises, eintreten darf,
auch einzutreten versprechen darf, wo solche dem
Gemeinwohl nicht widerstreiten. In diesem Sinn
ist der Abgeordnete vielmehr der natürliche Für-
sprecher seines Wahlbezirks, aus dem heraus er
vornehmlich seine Informationen sich verschaffen
und auf dessen Verhältnisse er in allgemeinen
Fragen, für die ein durchschlagender dem Gemein-
wohl präjudizierender Gesichtspunkt sich nicht