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Bund erworbenen Rechte auszuüben, aber auch alle
von demselben übernommenen Pflichten zu erfüllen.
Das Deutsche Reich ist ein Bundesstaat, kein
Einheitsstaat, aber auch kein Staatenbund. Die
einzelnen Bundesstaaten haben zwar ihre volle
Souveränität verloren, für einzelne Materien ist
die Reichsgewalt allein zuständig, bei andern Ange-
legenheiten fällt dem Reich nur die Gesetzgebung
und Beaufsichtigung, den Bundesstaaten aber die
Ausführung zu, in verschiedenen staatlichen Auf-
gaben sind die Bundesstaaten aber wieder voll-
kommen selbständig geblieben. Von Bedeutung ist
auch, daß das Reich seine eigene Zuständigkeit auf
Kosten der Bundesstaaten durch Verfassungsän-
derung beliebig erweitern kann.
Die Reichsverfassung besteht aus 14 Ab-
schnitten und 78 Artikeln, beruht auf der Norddeut-
schen Bundesverfassung und ist vom Reichstag am
16. April 1871 mit allen gegen 7 Stimmen an-
genommen und in einzelnen Punkten verschiedent-
lich abgeändert worden. Die einzelnen Abschnitte
behandeln: I. Bundesgebiet (Art. 1); II. Reichs-
gesetzgebung (Art. 2—5); III. Bundesrat (Art. 6
bis 10); IV. Präsidium des Bundes (Art. 11—19);
V. Reichstag (Art. 20—32); VI. Zoll= und Han-
delswesen (Art. 33—40); VII. Eisenbahnwesen
(Art. 41—47); VIII. Post= und Telegraphen-
wesen (Art. 48—52); IX. Marine und Schiff-
fahrt (Art. 53—55); X. Konsulatwesen (Art. 56);
XI. Reichskriegswesen (Art. 537—68); XII. Reichs-
finanzen (Art. 69—73); XIII. Schlichtung von
Streitigkeiten und Strafbestimmungen (Art. 74 bis
77); XIV. Allgemeine Bestimmuneng (Art. 78).
Das Bundesgebie besteht aus den König-
reichen Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg,
den Großherzogtümern Baden, Hessen, Mecklen-
burg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg,
Sachsen-Weimar, den Herzogtümern Braun-
schweig, Anhalt, Sachsen-Meiningen, Sachsen-
Altenburg, Sachsen-Coburg-Gotha, den Fürsten-
tümern Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-
Sondershausen, Waldeck, Reufß älterer Linie, Reuß
jüngerer Linie, Schaumburg-Lippe, Lippe, den
freien Städten Hamburg, Bremen und Lübeck,
also aus 22 monarchischen und 3 republikanischen
Staaten. Hierzu kam noch durch das Gesetz vom
9. Juni 1871 Elsaß-Lothringen als unmittelbares
Reichsland und 1891 die dem preußischen Staat
einverleibte Insel Helgoland. Die unmittelbare
verbindende Kraft der Reichsgesetzgebung tritt darin
zutage, daß die Reichsgesetze den Landesgesetzen
vorgehen. Für das Reich besteht ein gemeinsames
Indigenat mit der Wirkung, daß jeder Angehörige
eines jeden Bundesstaats in jedem andern Bun-
desstaat zum Wohnsitz, zum Gewerbebetrieb, zu
öffentlichen Amtern, zur Erwerbung von Grund-
stücken, zur Erlangung des Staatsbürgerrechts
und zum Genuß der sonstigen bürgerlichen Rechte
unter denselben Voraussetzungen wie der Einhei-
mische zuzulassen ist; dagegen verpflichtet die Reichs-
gesetzgebung den einzelnen Bundesstaat nicht, die
Deutsches Reich.
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in einem andern Bundesstaat getroffenen Bestim-
mungen für die Angehörigen dieses Bundesstaatsim
einzelnen Fall als für sich maßgebend zu erachten.
Der Beaussichtigung und der Gesetzgebung des
Reichs unterliegen: 1) die Bestimmungen über
Freizügigkeit und (mit Ausnahme von Bayern)
Heimats= und Niederlassungsverhältnisse, Staats-
angehörigkeit, Paßwesen und Fremdenpolizei,
Gewerbebetrieb, Versicherungswesen (jedoch nicht
für Immobilien in Bayern), Kolonisation und
Auswanderung; 2) Zoll= und Handelsgesetzgebung
sowie Besteuerung für Bundeszwecke; 3) Maß,
Münze und Gewicht, Ausgabe von Papiergeld;
4) Bankwesen; 5) Erfindungspatente; 6) Schutz
des geistigen Eigentums; 7) Schutz des Handels
und der Schiffahrt sowie die Konsularvertretung
im Ausland; 8) Eisenbahnwesen (mit Vorbehalten
für Bayern) und Herstellung von Land= und
Wasserstraßen im Interesse der Landesverteidigung
und des allgemeinen Verkehrs; 9) Flößerei und
Schiffahrtsbetrieb auf den mehreren Staaten ge-
meinsamen Wasserstraßen und der Zustand der
letzteren sowie die Fluß= und sonstigen Wasserzölle
(desgleichen die Seeschiffahrtszeichen); 10) Post-
und Telegraphenwesen (mit Ausnahme der in-
ternen Tarife von Bayern und Württemberg);
11) Bestimmungen über die wechselseitige Voll-
streckung von Erkenntnissen in Zivilsachen und
Erledigung von Requisitionen überhaupt; 12) Be-
glaubigung öffentlicher Urkunden; 13) gemeinsame
Gesetzgebung über bürgerliches Recht, Strafrecht
und Verfahren der Zivilgerichte und Zivilstraf-
gerichte (Abänderung v. 20. Dez. 1873; ursprüng-
lich lautete es: Die gemeinsame Gesetzgebung über
das Obligationenrecht, Strafrecht, Handels-- und
Wechselrecht und das gerichtliche Verfahren);
14) Militärwesen des Reichs (mit Vorbehalten
für Bayern und Württemberg) und Kriegsmarine;
15) Medizinal= und Veterinärpolizei; 16) Be-
stimmungen über das Preß= und Vereinswesen
(sehlte in der Verfassung des Norddeutschen Bun-
des). Andere Gegenstände, wie Unterricht, Ver-
hältnis von Kirche und Staat u. dgl., sind der
Landesgesetzgebung vorbehalten. Ebenso überläßt
das Reich grundsätzlich den Einzelstaaten die Aus-
führung der Reichsgesetze, also Verwaltung und
Gerichtsbarkeit, jedoch mit Ausnahme der Ver-
waltung des Auswärtigen, der Kriegsmarine, des
Post- und Telegraphenwesens, des Oberbefehls
über das Heer und der obersten Gerichtsbarkeit in
Zivil-, Straf-, Militär= und einigen Verwaltungs-
sachen (insbesondere Arbeiterversicherung).
Die Reichsgesetzgebung wird ausgeübt
durch den Bundesrat und den Reichstag, zwei eigen-
tümliche Gesetzgebungsfaktoren, wie sie sich in an-
dern staatsrechtlichen Verbindungen bis dahin nicht
finden. Die Übereinstimmung der Mehrheitsbe-
schlüsse dieser beiden Versammlungen ist zu einem
Reichsgesetz nicht bloß erforderlich, sondern auch
ausreichend. Einer Genehmigung der auf diese
Weise zustande gekommenen Beschlüsse durch den