Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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gezählten Staatengebilden ein wichtiger Unter- 
schied besteht. Wenn auch die Konstitution der 
Vereinigten Staaten von Amerika vom Jahre 
1787, die trotz wichtiger Wandlungen und der 
zentralisierenden Richtung der gegenwärtig dort 
herrschenden öffentlichen Meinung im großen und 
ganzen die Kompetenzgrenze zwischen der Bundes- 
gewalt und der Macht der verschiedenen Staaten 
noch immer bewahrt hat, wie sie die politische 
Weisheit eines Washington aufstellte, diesen 
Staaten eine sehr große Summe von politischen 
Rechten zuweist; wenn auch den Staaten die Ge- 
setzgebung in Sachen des Privatrechts und die 
Handhabung desselben, diese so recht eigentlich das 
Wesen des Staates ausmachenden Befugnisse, wie 
ferner die Organisation und Durchführung des 
administrativen Verwaltungsdienstes und die Be- 
sorgung und Ordnung des Schulwesens überlassen 
ist: so sind sie doch keine Staaten im Sinne der 
Einzelstaaten des Deutschen Reichs. Ebensowenig 
sind dies die Staaten der Republik Mexiko, ob- 
gleich auch ihnen unter anderem das Recht der Ge- 
setzgebung in Privatrechtssachen zusteht. Und so 
wie in Amerika, bei aller Machtfülle, die den 
Einzelstaaten dieser Republiken sich eingeräumt 
findet, doch immerhin die Verhältnisse ganz anders 
liegen als im Deutschen Reich, ist es auch in der 
Schweiz der Fall. Auch hier ist noch heutzutage 
den Kantonen ein weiter Spielraum gesetzgeberi- 
scher und verwaltender Tätigkeit eingeräumt. Aber 
obgleich dieselben noch immer das Recht der Reg- 
lung des Privatrechts besitzen, obgleich sie ihre 
erwaltungsangelegenheiten selbständig ordnen, 
auf ihre Schulangelegenheiten trotz der radikalen 
Grundprinzipien, welche die Bundesverfassung in 
dieser Hinsicht enthält, noch einen bedeutenden 
Einfluß üben, und in religiöser Hinsicht, abgesehen 
von einigen kirchenfeindlichen Grundprinzipien 
der Bundesverfassung, denen sie nicht entgegen- 
handeln können, die Ordnung der kirchenpolitischen 
Verhältnisse sowie die Handhabung der daraus 
sich ergebenden Machtbefugnisse besitzen, wie ihnen 
das alles durch die Verfassung vom Jahr 1848 
und die späteren Abänderungen derselben belassen 
worden ist: so fehlt ihnen doch das Moment, welches 
sie erst zu vollständigen Staaten machen würde. 
Alle diese Gemeinwesen, die wir bisher besprochen 
haben, mit einziger Ausnahme der dem Deutschen 
Reich angehörigen Staaten, treten nicht mehr 
irgendwie als selbständige Persönlichkeiten im 
internationalen Verkehr auf. Auch in der 
Schweiz ist das den Kantonen in der Verfassung 
des Jahres 1815 noch eingeräumte Recht, wirt- 
schaftliche Verträge und sogar Militärkapitula- 
tionen mit dem Ausland zu schließen, in Wegfall 
gekommen. Aber gerade die Fähigkeit eines Staa- 
tes, seine Untertanen im Ausland zu vertreten, 
Pässe auszustellen usw., wenn dieselbe auch durch 
Bundesverträge beschränkt sein kann, ist denn doch 
eine so wesentliche, daß sich die damit ousgerüsteten 
Staaten von den derselben entbehrenden sondern. 
  
Föderalismus. 
  
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Die, welche sie besitzen, bezeichnen wir, wenn fie 
in enger organischer Verbindung zueinander stehen, 
als einem Bundesstaate angehörig. Wenn 
ihre Verbindung zwar eine dauernde. aber eine 
solche ist, daß die wesentlichen Funktionen des 
Staatslebens ganz überwiegend von den einzelnen 
Staaten geübt werden und nur einige Zweige der 
öffentlichen Tätigkeit der organisierten Bundes- 
gewalt überwiesen sind, so wird ihre Verbindung 
Staatenbund (s. d. Art. Staatenverbindungen) 
genannt. Ein Staatenbund wie ein Bundesstaat 
umfaßt also als Mitglieder Gemeinwesen, die 
durch ihre vollkommene Organisation allen An- 
sprüchen des regelmäßigen staatlichen Lebens ge- 
nügen können, und wenn sie von einem beträcht- 
lichen Umfang sind, in der Regel sogar eine eigene, 
wenn auch der Organisation der Bundesarmee 
unter= und eingeordnete Armee besitzen (wie es 
mit Bayern, Sachsen und Württemberg der Fall 
ist), mag auch ein beträchtlicher Teil der Aufgaben 
des Staates von den Organen der Einzelstaaten 
nicht geübt werden, sondern der Zentralgewalt 
übertragen worden sein. Ja es kann ein selbstän- 
diger Staat in einzelnen Gegenständen sogar in 
weiterem Umfange seine Machtfülle beschränken 
und der Bundesgewalt übertragen, als dies in der 
andern Art von Staaten, die hier in Betracht 
kommt, den einheitlichen Staatsgebilden, welche 
nur, wie oben gesagt, einen Teil der wesentlichen 
staatlichen Aufgaben regionalen, autonomen Ge- 
walten übertragen, den Föderativstaaten, der Fall 
ist. So ist z. B. die Gesetzgebung in Privatrechts- 
und Zivilprozeßsachen den Einzelstaaten der nord- 
amerikanischen Union überlassen, während das 
Deutsche Reich sich eine einheitliche Gerichtsorgani- 
sation und ein einheitliches Bürgerliches Gesetzbuch 
gegeben hat. 
Eine föderative Gestalt haben auch die unter 
dem Hause Burgund und später unter den Habs- 
burgern vereinigten Niederlande besessen, für die 
zuerst im Jahre 1477 zu Gent eine gemeinsame 
Verfassung zur Einführung gelangte (Het Groote 
Privilegie), wie dann die im Kampfe gegen die 
spanische Herrschaft davon losgelösten Provinzen 
des Nordens eine Föderativverfassung, die in den 
Generalstaaten ihren Ausdruck fand, umschlang. 
Das bis zum letzten Karlistenkrieg in Spanien 
bestandene Verhältnis der baskischen Provinzen 
und jenes Navarras zu den übrigen Ländern der 
spanischen Krone hat diesen Charakter getragen, 
und es fehlt nicht an Bestrebungen zu dessen 
Wiederherstellung. 
Über den Wertoder Unwert der föderalen 
Staatsform im Gegensatze zum Zentralismus 
kann natürlich nicht in Bausch und Bogen geurteilt 
werden. So sehr provinzielle Selbständigkeit nicht 
bloß im Sinne der Dezentralisation, die überall 
berechtigt ist, sondern im Sinne des Föderalismus 
mit seiner Überweisung wesentlicher Staatsauf- 
gaben an regionale Organisationen, in gewissen 
Reichen nach Lage der historischen Entwicklung, der
	        
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