Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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natürlichen Verschiedenheiten und insbesondere als 
Ausdruck selbständigen Lebens in einem Staats- 
gebilde vereinter Nationalitäten geboten sein kann, 
so läßt sich doch nicht verkennen, daß, wie der 
ganze Gang der modernen Entwicklung zeigt, für 
alle Staaten eine größere Zusammenfassung der 
staatlichen Tätigkeiten, als Folge der Verkehrs- 
verhältnisse der Neuzeit und der dadurch bedingten 
Umwälzung des wirtschaftlichen und also auch des 
sozialen Lebens, zur Notwendigkeit geworden ist. 
Die Neuzeit heischt gewaltige militärische An- 
strengungen und demgemäß ein einheitliches Fuhlen 
und Denken der „Nationen in Waffen“, was hin- 
wiederum ein gewisses Verschmelzen der provin- 
ziellen und nationalen Verschiedenheiten bedingt. 
Freilich ist dies unter Umständen mit großen 
Schwierigkeiten verbunden, und als Beispiel solcher 
Kämpfe muß hier noch besonders auf Osterreichs 
Verfassungsstreitigkeiten hingewiesen werden. 
In Österreich, das seine Existenz als ver- 
fassungsmäßig untrennbarer Inbegriff seiner ver- 
schiedenen Kronländer der Pragmatischen Sanktion 
Karls VI. verdankt (die durch eine Vereinbarung 
dieses Monarchen mit den Ständen der König- 
reiche und Länder, über welche er herrschte, zu- 
stande kam), war das verfassungsmäßige Leben 
dieser Länder schon früher allmählich weniger 
kräftig geworden. Aber unter der Regierung der 
Kaiserin Maria Theresia nahm dasselbe abermals 
in bedeutendem Grade ab. Die große Kaiserin, 
welche Osterreich zu einem einheitlichen Staate 
umzubilden begann, beschränkte auch die Macht 
der Landstände, die ein wesentliches Hindernis 
dieser ihrer Tätigkeit entgegensetzten. Die Land- 
lage blieben zwar bestehen, aber ohne Steuer- 
bewilligungsrecht, Ungarn ausgenommen, das sich 
seine Verfassung als machtvolle Organisation stets 
erhalten hatte und, die kurze Regierungszeit des 
Kaisers Joseph II. ausgenommen, auch bis zum 
Jahre 1848 (selbst wider den Absolutismus des 
Kaisers Franz und seinen Sistierungsversuch wäh- 
rend der Jahre 1812/25) erhielt. Es blieb den 
Landtagen nur die Repartierung der Auflagen. 
Fragen der Gesetzgebung und Verwaltung wurden 
ihnen nicht mehr unterbreitet, so daß sich ihre 
Tätigkeit im übrigen auf die Verwaltung gewisser 
Fonds, Anstalten usw. beschränkte. Aber auch das 
war noch nicht der tiefste Stand verfassungsmäßigen 
Lebens in Osterreich. Nachdem Joseph II. noch 
weiter gegangen war, stellte zwar Leopold II. die 
zur Zeit Maria Theresias bestandenen Rechte der 
Stände wieder her, und es gab nun wieder stän- 
dische Ausschüsse und Beamte; aber die Bitte, 
freies Versammlungs= und Vorschlagsrecht sowie 
Landesminister den Ständen zu gewähren, wies 
der Kaiser zurück. So blieben denn dieselben bis 
zum Jahre 1848, wo die alten Verfassungen völlig 
beseitigt wurden, ohne alle Bedeutung, woran ver- 
einzelte Tatsachen, wie die, daß der böhmische 
Landtag in den Jahren 1845/47 zur Regierung 
in entschiedener Opposition stand, nichts zu ändern 
Föderalismus. 
  
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vermochten. Die alten Verfassungen waren eben 
durch einen natürlichen Entwicklungsprozeß, ohne 
daß sich das Volk für sie erhoben hätte, also auf 
dem Weg einer den Absolutismus begünstigen- 
den Gewohnheit beseitigt worden. Dies wohl 
hauptsächlich darum, weil schon seit Anfang des 
17. Jahrh. der, wie überall, so auch in Osterreich 
immer bedeutungsvoller und reicher werdende 
dritte Stand fast gar nicht, der Bauernstand aber, 
mit Ausnahme Tirols, überhaupt nicht in den 
Landtagen vertreten war. 
Dies alles ist aber für die Beurteilung des 
Konfliktes, der sich aus der verschiedenartigen Auf- 
fassung des zwischen dem kaiserlichen Diplom vom 
20. Okt. 1860 und der Verfassung vom 26. Febr. 
1861 bestehenden Verhältnisses ergibt, von höchster 
Bedeutung. Eben jenes allmähliche Absterben der 
alten Verfassungsinstitutionen erklärt es, daß 
Kaiser Franz Joseph I., als er sich zur Verleihung 
einer Verfassung entschloß, trotz der Betonung des 
geschichtlichen Rechtsbewußtseins der verschiedenen 
Königreiche und Länder und der zwischen denselben 
bestehenden Verschiedenheit (die sich in dem dies- 
bezüglichen, eben erwähnten Diplom vom 20. Okt. 
1860 „zur Reglung der innern staatsrechtlichen 
Verhältnisse der Monarchie“ ausgesprochen findet), 
sich auf den Standpunkt freier, unabhängiger Ver- 
leihung dieser Verfassung stellte, die von der Zu- 
siimmung der bestandenen vormärzlichen Landtage 
absah. Der Monarch bediente sich des Ausdrucks: 
„Wir haben kraft Unserer Machtvollkommenheit 
Nachstehendes als ein beständiges und unwider- 
rufliches Staatsgrundgesetz zu Unserer eigenen, 
so auch zur Richtschnur Unserer gesetzlichen Nach- 
kommen in der Regierung zu beschließen und zu 
verordnen befunden.“ Hierauf wird dann sub 1 
das Recht der Ausübung der Gesetzgebung an die 
Zustimmung der Landtage bzw. des Reichsrats 
geknüpft und sub II die Summe von Gegen- 
ständen bezeichnet, die mit Zustimmung des Reichs- 
rats zu erledigen sind. 
Obwohl nun aber in Abschnitt III folgender- 
maßen verfügt wird: „Alle andern Gegenstände 
der Gesetzgebung werden in und mit den betref- 
fenden Landtagen, und zwar in den zur ungari- 
schen Krone gehörigen Königreichen und Ländern 
im Sinne ihrer früheren Verfassungen, in Unsern 
übrigen Königreichen und Ländern aber im Sinne 
und in Gemäßheit ihrer Landesordnungen, ver- 
fassungsmäßig erledigt werden“, so kann daraus 
doch nicht der Schluß gezogen werden, daß den 
durch spätere Grundgesetze in neuer Zusammen- 
setzung zu kreierenden Landtagen das ohne ihre 
Zustimmung nicht mehr zu modifizierende Recht 
der Mitwirkung zur Erledigung sämtlicher sub II 
dem Reichsrate nicht eingeräumten Gesetzgebungs- 
gegenstände vorbehalten worden wäre. Es wäre 
dergestalt dem Reich eine weitgehend föderalistische 
Gesamtverfassung verliehen und dem Reichsrat 
nur das Geld-, Kredit= und Zettelbankwesen, die 
Zoll= und Handelssachen, die Grundsätze des Post-,
	        
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