191
natürlichen Verschiedenheiten und insbesondere als
Ausdruck selbständigen Lebens in einem Staats-
gebilde vereinter Nationalitäten geboten sein kann,
so läßt sich doch nicht verkennen, daß, wie der
ganze Gang der modernen Entwicklung zeigt, für
alle Staaten eine größere Zusammenfassung der
staatlichen Tätigkeiten, als Folge der Verkehrs-
verhältnisse der Neuzeit und der dadurch bedingten
Umwälzung des wirtschaftlichen und also auch des
sozialen Lebens, zur Notwendigkeit geworden ist.
Die Neuzeit heischt gewaltige militärische An-
strengungen und demgemäß ein einheitliches Fuhlen
und Denken der „Nationen in Waffen“, was hin-
wiederum ein gewisses Verschmelzen der provin-
ziellen und nationalen Verschiedenheiten bedingt.
Freilich ist dies unter Umständen mit großen
Schwierigkeiten verbunden, und als Beispiel solcher
Kämpfe muß hier noch besonders auf Osterreichs
Verfassungsstreitigkeiten hingewiesen werden.
In Österreich, das seine Existenz als ver-
fassungsmäßig untrennbarer Inbegriff seiner ver-
schiedenen Kronländer der Pragmatischen Sanktion
Karls VI. verdankt (die durch eine Vereinbarung
dieses Monarchen mit den Ständen der König-
reiche und Länder, über welche er herrschte, zu-
stande kam), war das verfassungsmäßige Leben
dieser Länder schon früher allmählich weniger
kräftig geworden. Aber unter der Regierung der
Kaiserin Maria Theresia nahm dasselbe abermals
in bedeutendem Grade ab. Die große Kaiserin,
welche Osterreich zu einem einheitlichen Staate
umzubilden begann, beschränkte auch die Macht
der Landstände, die ein wesentliches Hindernis
dieser ihrer Tätigkeit entgegensetzten. Die Land-
lage blieben zwar bestehen, aber ohne Steuer-
bewilligungsrecht, Ungarn ausgenommen, das sich
seine Verfassung als machtvolle Organisation stets
erhalten hatte und, die kurze Regierungszeit des
Kaisers Joseph II. ausgenommen, auch bis zum
Jahre 1848 (selbst wider den Absolutismus des
Kaisers Franz und seinen Sistierungsversuch wäh-
rend der Jahre 1812/25) erhielt. Es blieb den
Landtagen nur die Repartierung der Auflagen.
Fragen der Gesetzgebung und Verwaltung wurden
ihnen nicht mehr unterbreitet, so daß sich ihre
Tätigkeit im übrigen auf die Verwaltung gewisser
Fonds, Anstalten usw. beschränkte. Aber auch das
war noch nicht der tiefste Stand verfassungsmäßigen
Lebens in Osterreich. Nachdem Joseph II. noch
weiter gegangen war, stellte zwar Leopold II. die
zur Zeit Maria Theresias bestandenen Rechte der
Stände wieder her, und es gab nun wieder stän-
dische Ausschüsse und Beamte; aber die Bitte,
freies Versammlungs= und Vorschlagsrecht sowie
Landesminister den Ständen zu gewähren, wies
der Kaiser zurück. So blieben denn dieselben bis
zum Jahre 1848, wo die alten Verfassungen völlig
beseitigt wurden, ohne alle Bedeutung, woran ver-
einzelte Tatsachen, wie die, daß der böhmische
Landtag in den Jahren 1845/47 zur Regierung
in entschiedener Opposition stand, nichts zu ändern
Föderalismus.
192
vermochten. Die alten Verfassungen waren eben
durch einen natürlichen Entwicklungsprozeß, ohne
daß sich das Volk für sie erhoben hätte, also auf
dem Weg einer den Absolutismus begünstigen-
den Gewohnheit beseitigt worden. Dies wohl
hauptsächlich darum, weil schon seit Anfang des
17. Jahrh. der, wie überall, so auch in Osterreich
immer bedeutungsvoller und reicher werdende
dritte Stand fast gar nicht, der Bauernstand aber,
mit Ausnahme Tirols, überhaupt nicht in den
Landtagen vertreten war.
Dies alles ist aber für die Beurteilung des
Konfliktes, der sich aus der verschiedenartigen Auf-
fassung des zwischen dem kaiserlichen Diplom vom
20. Okt. 1860 und der Verfassung vom 26. Febr.
1861 bestehenden Verhältnisses ergibt, von höchster
Bedeutung. Eben jenes allmähliche Absterben der
alten Verfassungsinstitutionen erklärt es, daß
Kaiser Franz Joseph I., als er sich zur Verleihung
einer Verfassung entschloß, trotz der Betonung des
geschichtlichen Rechtsbewußtseins der verschiedenen
Königreiche und Länder und der zwischen denselben
bestehenden Verschiedenheit (die sich in dem dies-
bezüglichen, eben erwähnten Diplom vom 20. Okt.
1860 „zur Reglung der innern staatsrechtlichen
Verhältnisse der Monarchie“ ausgesprochen findet),
sich auf den Standpunkt freier, unabhängiger Ver-
leihung dieser Verfassung stellte, die von der Zu-
siimmung der bestandenen vormärzlichen Landtage
absah. Der Monarch bediente sich des Ausdrucks:
„Wir haben kraft Unserer Machtvollkommenheit
Nachstehendes als ein beständiges und unwider-
rufliches Staatsgrundgesetz zu Unserer eigenen,
so auch zur Richtschnur Unserer gesetzlichen Nach-
kommen in der Regierung zu beschließen und zu
verordnen befunden.“ Hierauf wird dann sub 1
das Recht der Ausübung der Gesetzgebung an die
Zustimmung der Landtage bzw. des Reichsrats
geknüpft und sub II die Summe von Gegen-
ständen bezeichnet, die mit Zustimmung des Reichs-
rats zu erledigen sind.
Obwohl nun aber in Abschnitt III folgender-
maßen verfügt wird: „Alle andern Gegenstände
der Gesetzgebung werden in und mit den betref-
fenden Landtagen, und zwar in den zur ungari-
schen Krone gehörigen Königreichen und Ländern
im Sinne ihrer früheren Verfassungen, in Unsern
übrigen Königreichen und Ländern aber im Sinne
und in Gemäßheit ihrer Landesordnungen, ver-
fassungsmäßig erledigt werden“, so kann daraus
doch nicht der Schluß gezogen werden, daß den
durch spätere Grundgesetze in neuer Zusammen-
setzung zu kreierenden Landtagen das ohne ihre
Zustimmung nicht mehr zu modifizierende Recht
der Mitwirkung zur Erledigung sämtlicher sub II
dem Reichsrate nicht eingeräumten Gesetzgebungs-
gegenstände vorbehalten worden wäre. Es wäre
dergestalt dem Reich eine weitgehend föderalistische
Gesamtverfassung verliehen und dem Reichsrat
nur das Geld-, Kredit= und Zettelbankwesen, die
Zoll= und Handelssachen, die Grundsätze des Post-,