Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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beschränken kann. In Preußen bestanden 1906 
nur 2998 meist kleine Fortbildungsschulen auf 
dem Lande mit 42 691 Schülern. — Erfreulicher- 
weise gehen nicht bloß immer mehr Städte und 
Industriebezirke an die Gründung von Pflicht- 
fortbildungsschulen, und zwar auch für weibliche 
Handelsangestellte, sondern auch die landwirtschaft- 
lichen Arbeiter werden zu ihrem pflichtmäßigen 
Besuch herangezogen. Das wurde sogar bereits 
gesetzlich geregelt, und zwar 1904 in der Provinz 
Hessen-Nassau, die schon seit 1817 ein blühendes 
Fortbildungsschulwesen hat und jetzt auch, nach 
dem Ermessen der einzelnen Gemeinden, die jungen 
Landarbeiter zum Schulbesuch verpflichten kann. 
Anfang 1908 wurden in der Provinz Hannover 
die einleitenden Schritte getan, um auch dort für 
die Landarbeiter die gleichen gesetzlichen Bestim- 
mungen zu erlangen. Noch einen Schritt weiter 
ging 1906 der Bund der deutschen Frauenvereine, 
der bei dem Reichstag und den Einzellandtagen 
dahin vorstellig wurde, daß auch die Arbeiterinnen 
zum Besuche der Fortbildungsschulen verpflichtet 
werden sollten, was allem Anschein nach demnächst 
ein neues Reichsgesetz statutarisch verfügen wird. 
Der Unterricht in den allgemeinen Fortbil- 
dungsschulen wird meist nebenamtlich von Volks- 
schullehrern oder Lehrern höherer Schulen erteilt, 
denen nur für gewisse Gebiete Fachleute zur Seite 
treten. Um die Ausbildung von Lehrern für die 
gewerblichen Fortbildungsschulen hat sich der schon 
erwähnte „Deutsche Verein für das Fortbildungs- 
schulwesen“ sehr verdient gemacht, der seit 1898 
alljährlich in Leipzig im Juni und Juli sechs- 
wöchige Kurse zur Ausbildung von Fortbildungs- 
schullehrern veranstaltet, für die jeder Kursist 
60 M zu zahlen hat. Auf diese Weise sind bis 
heute an 500 Lehrer aus den deutschen Bundes- 
staaten für den Unterricht in den gewerblichen Fort- 
bildungsschulen vorbereitet worden. Auch die ver- 
schiedeneu Regierungen lassen sich jetzt die Aus- 
bildung tüchtiger Fachlehrer angelegen sein. Denn 
es hat sich in den Anschauungen über Stellung 
und Zweck der Forkbildungsschulen im Laufe der 
Zeit ein wesentlicher Umschwung vollzogen: die 
allgemeinen Anstalten werden heute vielfach als 
nicht ausreichend angesehen, und es wird immer 
mehr betont, daß ihr Unterricht auch auf die prak- 
tische Tätigkeit des Schülers Rücksicht zu nehmen 
und sich eng an das Berufsleben anzuschließen 
hat. Auch die allgemeinen Fortbildungsschulen 
beginnen daher verschiedentlich einen mehr fach- 
gewerblichen Charakter anzunehmen, der das 
Interesse der Schüler erhöht, da diese Art von 
Unterricht weniger „nach Volksschule schmeckt" 
und die Möglichkeit bietet, sich in dem liebgewor- 
denen Berufsfache geistig zu vertiefen. 
In größeren Orten pflegt man allgemeine und 
gewerbliche Klassen nebeneinander einzurichten; in 
kleineren sind die allgemeinen Fortbildungsschulen 
am besten angebracht, bei denen sich jedoch der 
Jeichenunterricht tunlichst den einzelnen Gewerben 
Staatslexikon. II. 3. Aufl. 
Fortbildungsschulen. 
  
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anzupassen hat. Besonders in den von Innungen 
gestifteten Schulen herrscht gewöhnlich der gewerb- 
liche Charakter derartig vor, daß man sie als Hand- 
werkerfortbildungsschulen bezeichnet. Auf diese 
Weise entstehen fast so zahlreiche Arten von Fort- 
bildungsschulen, wie es Berufe gibt. — Als eine 
besondere Gruppe erscheinen neben den gewerb- 
lichen und den schon erwähnten ländlichen oder 
landwirtschaftlichen Fortbildungsschulen die kauf- 
männischen, die entweder Lehrlingsschulen sind 
oder sich als Vollschulen mit meist einjährigem 
Kursus an die Volksschule anschließen und ihre 
Schüler in engeren Grenzen als die höheren Han- 
delsschulen auf den kaufmännischen Beruf vor- 
bereiten. — Streng zu trennen sind von diesen 
eigentlichen Fortbildungsschulen alle jene Anstalten 
wie Klöppel-, Weber-, Brauer-, Müllerschulen usw., 
die nur eine rein praktische Tüchtigkeit erzielen 
wollen und daher in den Bereich der Fachschulen 
gehören. Ubrigens scheint das Fachschulwesen 
durchaus die Tendenz zu haben, die Fortbildungs- 
schulen dauernd zurückzudrängen; in Berlin z. B. 
konnte dies 1906 zahlenmäßig nachgewiesen werden. 
Hinsichtlich der Lage der Unterrichtsstunden 
liegen bis jetzt die Verhältnisse noch vielfach im 
argen, da diese meist für die Sonntagvormittage 
oder für die späten Abendstunden angesetzt sind. 
Am Sonntag sollte, ganz abgesehen von der Ver- 
letzung seines Charakters als Tag der Ruhe, schon 
wegen der Verhinderung des Kirchenbesuchs kein 
Unterricht sein. Die Abendstunden sind aber des- 
halb ungeeignet, weil den jungen Menschen (und 
vielfach auch den Lehrern!) nach einem arbeits- 
reichen Tage die nötige geistige Spannkraft fehlt, 
zumal den nur widerwillig diese Schulen besuchen- 
den Schülern. Deshalb strebt man immer mehr die 
Verlegung des Unterrichts in die Arbeitszeit an, 
was in Baden bereits durch das Gesetz gefordert 
wird. Auch in Hessen und Weimar darf wenigstens 
nach 7 Uhr abends kein Unterricht mehr stattfinden, 
und Oldenburg und Preußen gewähren nur den 
Fortbildungsschulen eine staatliche Unterstützung, 
die den Unterricht spätestens um ½9 Uhr abends 
beenden. Auch Bayern wirkt in diesem Sinne, 
desgleichen viele Städte, wie z. B. Charlotten- 
burg, das 1906 den obligatorischen Besuch ein- 
führte mit der ausdrücklichen Bestimmung, daß 
der Unterricht in die Zeit von 7 bis 7 Uhr fallen 
müßte. — Da für die Fortbildungsschulen, wie 
schon erwähnt, wöchentlich nur einige Stunden 
angesetzt werden können, die noch dazu ein großes 
Pensum zu bewältigen haben, so käme die so 
überaus wichtige erzieherische Einwirkung in diesen 
Anstalten zu kurz, wenn neben ihnen nicht noch 
andere Veranstaltungen für die freie Zeit der 
Schüler geschaffen würden. Als solche sind zu 
nennen Lehrlingsheime mit guten Bibliotheken und 
Spielplätzen, gemeinsame Spaziergänge oder Ball- 
spiele u. dgl. an den Sonntagnachmittagen, gut 
geleitete Abendunterhaltungen usw. Derartige 
Unternehmungen kommen indirekt auch dem Unter- 
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