Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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liche Ruhe gebracht und dadurch einen großartigen 
Aufschwung des Ackerbaues, der Industrie und 
des Handels, der Künste und Wissenschaften, der 
Journalistik und öffentlichen Beredsamkeit er- 
möglicht. 
Ludwigs Bruder Karl X. (1824/30), der als 
Graf von Artois stets an der Spitze der konserva- 
tiven Partei gestanden hatte, war von vornherein 
unbeliebt. Die Krönung zu Reims nach dem alten 
Zeremoniell, die Entschädigung der Emigranten 
mit einer Milliarde, das Kloster= und Sakrilegien- 
gesetz erweckten bald eine heftige Opposition bei 
den Liberalen, die durch das gemäßigte Ministe- 
rium Martignac, die populäre Expedition nach 
Morea und die Eroberung Algiers (Juli 1830) 
nur vorübergehend gemildert wurde. Die Ver- 
kündigung eines neuen Wahlgesetzes und der Zensur 
durch die „Juliordonnanzen“ Polignacs brachte 
die Revolution („Julirevolution“", 27. bis 
30. Juli 1830) zum Ausbruch, welche die ältere 
Linie der Bourbonen vom Throne stieß. 
Statt der vom Volke geträumten Republik be- 
stellte die herrschende Bourgeoisie (der Bankier 
Lafitte, Thiers, Casimir-Périer) das Haupt der 
jüngeren bourbonischen Linie Orléans, Ludwig 
Philipp, der sich durch sein ostentatives bürger- 
liches Benehmen und seine liberale Gesinnung 
populär gemacht hatte, zum „Generalleutnant des 
Königreichs“. Obwohl Karl X. zugunsten seines 
Enkels, des späteren Grafen v. Chambord, abdankte, 
nahm er am 9. Aug. 1830 selbst die Krone an. 
Ohne legitime Rechte auf Grund der Volkssouve- 
ränität auf den Thron gekommen, erweiterte er in 
der neuen Verfassung die Rechte der Kammern, 
knüpfte aber zugleich zugunsten der Bourgeoisie die 
politischen Rechte an einen hohen Zensus. Daß 
er sich nicht mit der ihm zugedachten Rolle eines 
konstitutionellen Musterkönigs (Thiers: Le roi 
règne, il ne gouverne pas) begnügte, sondern 
zwischen den Parteien lavierend (Juste-milieu) 
die Regierung selbst leitete, machte die ehrgeizigen 
liberalen Parteiführer mißvergnügt. Die Legiti- 
misten und Republikaner trieben grundsätzlich Op- 
position; die politisch rechtlose und von der Bour- 
geoisie ausgenutzte arbeitende Bevölkerung machte 
schon 1834 durch Aufstände in Lyon, Paris und 
St-Etienne ihrer Unzufriedenheit Lust und wurde 
durch radikale und sozialistische Schriftsteller und 
Agitatoren (Ledru-Rollin, Louis Blanc) auf eine 
vollkommene Umwälzung vorbereitet. Dabei genoß 
die Julimonarchie auch im Ausland geringe Ach- 
tung und erlitt 1840 mit ihrem Schützling Me- 
hemed Ali eine empfindliche diplomatische Nieder- 
lage. Seitdem regierte Ludwig Philipp mit dem 
konservativen Ministerium Guizot und zog die 
Zügel schärfer an. Der hartnäckige Widerstand 
des Ministeriums gegen die Wahlreform, für die 
seit 1847 in der Presse und auf sog. Reform- 
banketten kräftig agitiert wurde, und schließlich das 
Verbot der Reformbankette führten zur Beseitigung 
der haltlosen Julimonarchie in der Februar- 
Frankreich. 
  
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revolution (22./24. Febr. 1848). Eine pro- 
visorische Regierung, teils Republikaner, wie La- 
martine, Arago, Cremieux, teils Sozialisten (Louis 
Blanc, Ledru-Rollin usw.), proklamierte die (zweite) 
Republik (1848/52), sprach zugleich das Recht 
jedes Franzosen auf nährende Arbeit aus und er- 
richtete Nationalwerkstätten für die Arbeitslosen, 
die Millionen kosteten. Ihre Auflösung und die 
Besorgnis vor der Wiederaufrichtung der Mon- 
archie führten zu einem Aufstande der sozialistischen 
Arbeiterpartei unter Louis Blanc, der durch den 
Kriegsminister Cavaignac in fünftägigem Kampfe 
(23./27. Juni) unterdrückt warde. 
Die neue Verfassung vom 12. Nov. 1848 ent- 
hielt das Einkammersystem, das allgemeine und 
direkte Wahlrecht und die Wahl des Präsidenten 
durch allgemeine Volksabstimmung auf 4 Jahre. 
Den unter Ludwig Philipp neuerwachten Bona- 
partismus und die Angst vor der sozialistischen 
Republik klug ausnützend, gelangte durch Plebiszit 
vom 10. Dez. Louis Napoleon Bonaparte 
zur Präsidentschaft. Durch nachdrückliche Auf- 
rechterhaltung der Ordnung gewann er die konser- 
vativ-monarchische, durch eine Expedition zugunsten 
des Kirchenstaates die kirchliche Richtung, als Neffe 
des Kaisers das Heer und durch sein kluges und 
wohlwollendes Wesen Überläufer aus allen Par- 
teien, während sich die Kammer durch Einschrän- 
kung des Wahlrechts diskreditierte. So vorbereitet, 
wagte er, als die Kammer seine Anträge (Herstel- 
lung des allgemeinen Wahlrechts, Gestattung der 
Wiederwahl des Präsidenten) ablehnte, am 2. Dez. 
1851 den Staatsstreich, beseitigte die Kammer und 
ließ die gefährlichsten Gegner verhaften (Cavai-= 
gnac, Changarnier, Thiers, V. Hugo). Ein Plebi- 
säit vom 21. Dez. übertrug ihm die Präsident- 
schaft auf 10 Jahre, die Verfassung vom 14. Jan. 
1852 (Senat vom Präsidenten ernannt, Gesetzge- 
bender Körper auf 10 Jahre gewählt) fast absolute 
Gewalt, und nach einem neuen Plebiszit wurde 
am 2. Dez. 1852 das zweite Kaiserreich 
ausgerufen. Für die entschwundene Freiheit und 
das persönliche Regiment mußte die Nation durch 
Pflege der materiellen Interessen und äußern 
Glanz entschädigt werden. Trotz der wiederholten 
Erklärung L'empire c’est la paix bedurfte ge- 
rade das Kaiserreich den Krieg, um dem Volke 
stets in der rechten gloire zu erscheinen. Im Krim- 
krieg (1854/56) und dem Pariser Kongreß trat 
Frankreich als erste Macht Europas auf. 
Der Feldzug gegen Osterreich (1859) brachte 
zwar Länderzuwachs (Savoyen und Nizza), aber 
die Beraubung des Papstes und die Bildung eines 
selbständigen Königreichs Italien verstimmte die 
französischen Katholiken und Republikaner. Selbst 
Maßregeln wie der freihändlerische Vertrag mit 
England (23. Jan. 1860) und Erfolge der fran- 
zösischen Waffen auf fernen Kriegsschauplätzen 
(China, Afrika, Kotschinchina) befriedigten nur eine 
Zeitlang, und der Verlauf des abenteuerlichen 
Unternehmens gegen Mexiko (seit 1861), welches 
 
	        
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