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ungeheure Opfer an Geld und Menschen kostete
und Frankreichs Aktionskraft in der polnischen,
schleswig-holsteinischen und deutschen Frage lahm-
legte, wurde für das Kaiserreich geradezu verhäng-
nisvoll. Der schnelle Sieg Preußens (1866) und
der mißglückte Versuch, als Kompensation für Preu-
ßens Erfolge Luxemburg zu gewinnen (Frühjahr
1867), wurden vom Volke als ebenso viele Nieder-
lagen empfunden, und das Verlangen nach Er-
weiterung der politischen Freiheiten wurden immer
lauter und dringender. Da die Wahlen die Oppo-
sition bedeutend stärkten, entschloß sich der Kaiser
zur Berufung eines konstitutionellen Ministeriums
(Ollivier, 2. Jan. 1870) und zur Erweiterung
der Rechte der Kammer. Der schlechte Erfolg eines
Plebiszits (8. Mai) legte der Hofpartei den Ge-
danken an einen Krieg gegen Preußen näher; auch
die öffentliche Meinung drängte dazu, und über
der spanischen Thronfrage kam er am 19. Juli
zum Ausbruch. Die schnellen, entscheidenden Nieder-
lagen der französischen Heere und die Gefangen-
nahme Napoleons warfen den Kaiserthron über den
Haufen, und am 4. Sept. 1870 wurde in Paris
die Republik ausgerufen.
5. Die dritte Republik. Eine „Regierung
der nationalen Verteidigung"“, die sich unter dem
Vorsitze Trochus aus den Führern der früheren
Opposition (Jules Favre, Gambetta, Simon,
Cremieux, Rochefort u. a.) zusammensetzte, führte
den Kampf gegen den siegreichen Gegner mit un-
geahnter Kraftentwicklung fort, bis man Paris
endlich (28. Jan. 1871) aufgeben und einen drei-
wöchigen Waffenstillstand nachsuchen mußte. Eine
Nationalversammlung von 750 Mitgliedern, die
am 12. Febr. 1871 in Bordeaux zusammentrat,
wählte Thiers zum „Chef der ausführenden Ge-
walt“ und nahm in der Nacht vom 1./2. März
den von Thiers und Favre vereinbarten Frieden
(endgültiger Abschluß am 10. Mai zu Frankfurt
a. M.) an, in welchem Frankreich Elsaß-Lothringen
verlor und sich zu einer Kriegskostenentschädigung
von fünf Milliarden Francs verpflichten mußte.
Ein sozialistischer Aufstand in Paris, die zwei
Monate dauernde Schreckensherrschaft der Kom-
mune, die am 28./29. Mai von Mac Mahon
niedergeschlagen wurde, stärkte die konservativen
Elemente in der jetzt zu Versailles tagenden Na-
tionalversammlung. Die Monarchisten hatten zwar
die Mehrheit, waren aber geteilt in Anhänger des
Grafen Chambord von der Linie Bourbon, des
Grafen von Paris von der Linie Orléans und
Bonapartisten, so daß keine Partei siegte. Daher
wählte die Nationalversammlung am 31. Aug.
1871 den greisen Thiers zum Präsidenten auf
drei Jahre. Er brachte durch Zahlung der fünf
Milliarden den Abzug der deutschen Okkupations-
armee schon 1873 zustande und setzte die Reorga-
nisation der Armee und durch hohe Schutzzölle
und indirekte Steuern die Ordnung der Finanzen
ins Werk. Da er auf die dauernde Einrichtung
der republikanischen Staatsform lossteuerte, stürzte
Frankreich.
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ihn die monarchistische Mehrheit der National-
versammlung und wählte Mac Mahon zum
Präsidenten (24. Mai 1878), der mit Broglie
als Ministerpräsidenten den Ubergang zur Mon-
archie bilden sollte. Diese schien sich zu verwirk-
lichen, als sich die Grafen von Chambord (der
kinderlos war) und Paris am 5. Aug. zu Frohs-
dorf aussöhnten; aber Chambords eigensinnige
Weigerung, die Trikolore und das konstitutionelle
System anzuerkennen, verdarb alles. Daher wurde
Mac Mahons Gewalt am 19. Nov. auf 7 Jahre
verlängert, und da die Wiederherstellung der
Monarchie unmöglich war und im Volke die Re-
publik an Anhängern gewann, wurde die Republik
nach langen Verhandlungen durch Annahme der von
Wallon entworfenen Verfassungsgesetze (24. Febr.
1875) endgültig begründet. Ehe die neue Ver-
fassung in Kraft trat (1. Jan. 1876), gab die
Nationalversammlung noch ein Unterrichtsgesetz
in katholischem Sinne, das u. a. auch die Errich-
tung freier (kirchlicher) Universitäten erlaubte.
Die Neuwahlen brachten eine republikanische
Mehrheit; Mac Mahon mußte sich zu republikani-
schen Ministerien (Dufaure, dann Jules Simon)
verstehen und in der römischen Frage nachgeben.
Ein letzter Versuch (Ministerium Broglie, 1877),
die konservative Partei durch Neuwahlen wieder
zur Herrschaft zu bringen, endete mit einer entschei-
denden Niederlage. Die Pariser Weltausstellung
1878 zeigte den wirtschaftlichen Aufschwung des
Landes trotz des Krieges. Als sie vorüber war und
die Republikaner, jetzt auch im Senat in der Mehr-
heit, die demütigende Forderung stellten, die mon-
archistischen und klerikalen Elemente aus Verwal-
tung, Justiz und Armee zu entfernen, dankte Mac
Mahon am 30. Jan. 1879 ab. Sein Nachfolger
wurde das Haupt der gemäßigten Republikaner
(„Opportunisten"), der Kammerpräsident Jules
Grévy (28. Dez. 1885 auf weitere 7 Jahre ge-
wählt). Dank seiner Schwäche herrschte aber tat-
sächlich die republikanische Linke, deren Gesinnung
das Wort ihres Führers, des neuen Kammer=
präsidenten Gambetta, kennzeichnete: Le clérica--
lisme c'est P'ennemi. Die nächsten Zugeständnisse
an die Linke waren die Absetzung monarchischer
Beamter, die Verlegung der Regierung von Ver-
sailles nach Paris (1. Nov. 1879), die Amne-
stierung der Kommunarden (9. Juli 1879) und der
Ausschluß der nicht autorisierten Kongregationen,
besonders der Jesuiten, vom Unterricht (30. März
1880). Nach den Neuwahlen für den Senat ging
23. März 1882 das Volksschulgesetz Ferrys durch,
das den Religionsunterricht in der Schule ab-
schaffte. Verdienstlicher war Ferrys Wirken in der
äußern Politik; im Interesse der Kolonialpolitik
(1881 wurde Tunis, unter seinem zweiten Mini-
sterium 1883/85 Tonkin besetzt) betrieb er eine
Verständigung mit den Großmächten, sogar mit
Deutschland. Daher stürzten ihn die Kreise, die im
Revanchekrieg gegen Deutschland die Hauptauf-
gabe sahen, bei der Nachricht von Négriers Nieder-